Die Iraner haben das Vertrauen in ihre Regierung verloren, sagt der iranische Schriftsteller Amir Cheheltan. Die Menschen seien enttäuscht, die Wirtschaft steckt in einer Krise. Doch der anhaltende Konflikt in der Region spiele dem Regime in die Hände.
bpb.de: Die Menschen in Iran erleben unruhige Zeiten. Seit die USA die Sanktionen erneuert haben, steckt Irans Wirtschaft in einer schweren Rezession. Zugleich kann der Konflikt zwischen Iran und den USA jederzeit wieder eskalieren. Wie ist zurzeit die Stimmung in Iran?
Amir Hassan Cheheltan: Die Stimmung ist sehr angespannt – aus verschiedenen Gründen. Zunächst gab es im November 2019 landesweite Proteste, während derer viele Iraner ums Leben kamen. Dann ist die ukrainische Passagiermaschine abgestürzt: Im Anschluss belog die Regierung drei Tage lang die Bevölkerung, indem sie behauptete, der Grund des Absturzes sei ein technischer Fehler gewesen. Als dann glaubhafte Dokumente international veröffentlicht wurden, musste die Regierung zugeben, dass sie das Flugzeug versehentlich abgeschossen hatte. Das hat die Iraner sehr wütend gemacht. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung ist aufgebraucht. Das wurde auch deutlich bei den Parlamentswahlen Ende Februar. Die Wahlbeteiligung lag in der Hauptstadt bei nur 25 Prozent – und das sind die offiziellen Statistiken, denen wir glauben müssen. [Anm. d. Red.: In Iran lag die Wahlbeteiligung landesweit bei 42,6 Prozent (2016: 61,6 Prozent) und damit so niedrig wie noch nie seit der Islamischen Revolution von 1979.]
Die Proteste im November 2019 ereigneten sich, nachdem die Regierung die Benzinpreise erhöht hatte. Amnesty International hat über 300 Todesopfer dokumentiert. Warum war die Reaktion der Regierung auf die Proteste so brutal?
Die landesweiten Demonstrationen waren größer als je zuvor seit der Revolution 1979. Die Regierung wollte die Situation unter Kontrolle halten – und reagierte deshalb so brutal.
Auch blockierte die Regierung für fast zwei Wochen das Internet. Nachdem die Internetverbindungen wiederhergestellt waren, kamen über die sozialen Medien viele Informationen rein. Dazu gehörten auch schreckliche Fotos von Menschen, die erschossen worden waren. Diese Fotos machten die Menschen sehr wütend. Die Regierung hatte behauptet, dass die Schützen Demonstranten gewesen wären. Aber die Fotos zeigten, dass Sicherheitskräfte in die Schießereien involviert waren.
Die letzte große Protestwelle erlebte Iran 2009 nach der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Mahmoud Ahmadinedschad. Damals gingen hunderttausende von Menschen auf die Straße. Sie forderten politische Freiheit und Rechte. Gibt es einen Unterschied zwischen den Protesten von damals und den Unruhen im November?
Die Proteste von 2009 waren auf politische Themen des Landes fokussiert. Es war vor allem die Mittelklasse, die damals auf die Straße ging.
Die Demonstrationen im November 2019 waren vor allem soziale Proteste aufgrund der dramatischen Wirtschaftssituation. Wir hatten auch schon zum Jahreswechsel 2017/2018 landesweite Proteste: Es waren vor allem Menschen aus den ländlichen Gebieten und aus der Unterschicht, die auf die Straße gingen. Die Menschen fühlen sich, als ob sie in einer Falle sitzen – und diese Falle besteht aus hoher Inflation und Arbeitslosigkeit.
Was würden Sie sagen: Wann hat diese Wirtschaftskrise begonnen?
Die Krise begann letztlich am ersten Tag nach der Revolution 1979. Die neue Führungsriege glaubte den Experten von damals nicht, denn sie hatten dem Schah-Regime angehört. Stattdessen wollten sie das Land entlang ihrer revolutionären Ideen organisieren und verwalten.
1980 marschierte das Nachbarland Irak in den Iran ein, und es folgte ein erbitterter Krieg, der acht Jahre dauern sollte. Nach den Wahlen von Präsident Haschemi Rafsandschani 1989 hofften die Menschen in Iran auf eine offene und wachsende Wirtschaft, aber tatsächlich wuchs die Korruption. Die ersten sozialen Proteste nach 1979 erlebte Iran bereits in den 1990er Jahren in einigen der größeren Städte aufgrund steigender Lebenshaltungskosten. 1997 wurde Mohammed Chatami zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt, und es begann erneut eine Zeit der Hoffnung. Die Wirtschaftssituation verbesserte sich etwas, die Inflation ging zurück. Auch die Spannungen zum Ausland nahmen ab. Doch mit Mahmoud Ahmadinedschad, der 2005 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, verschlimmerte sich die Situation wieder.
Heute sind alle enttäuscht. Nicht nur die Menschen, die der Unterschicht angehören, ebenso die Mittelschicht. Angehörige der Mittelschicht erleben einen sozialen Abstieg. Präsident Hassan Rouhani erklärte im Herbst 2019, dass die Regierung staatliche Hilfen an 60 Millionen Iraner ausgeben will – das sind 75 Prozent der Bevölkerung.
Ist das eine organische Krise, wie Sie in ihren Essays schreiben – organisch deshalb, weil die Krise unmittelbar 1979 begonnen hat?
Ja, und auch weil die Regierung keine Lösung für die Probleme hat. Deshalb ist die Führung so voller Angst. Sie glauben, wenn sie nur für einen Moment die Kontrolle über die Bevölkerung verlieren, dann verlieren sie ganz und gar die Kontrolle.
Um sich die Solidarität der Bevölkerung zu sichern, versucht die Regierung einen äußeren Feind aufzubauen. Dafür nutzen sie die USA, Israel und manchmal Saudi-Arabien. Für die Proteste im November machte die Regierung das Ausland verantwortlich. Die Führung verschließt die Augen und will die Realität auf den Straßen Irans lieber nicht sehen.
In Ihren Essays schreiben Sie, dass Iran keine weitere Revolution brauche, aber Reformen. Aber wie könnten diese umgesetzt werden? In Iran hat vor allem der Revolutionsführer Ajatollah Chamenei die Macht, ebenso einige Hardliner unter den Klerikern sowie die Revolutionsgarden. Glauben Sie, sie sind zu graduellen Reformen bereit?
Ich glaube nicht, dass eine Revolution hilfreich wäre. Das gilt nicht nur für Iran, sondern für alle Länder weltweit. Gesellschaften sind nur zu graduellen Reformen in der Lage. Es ist sehr naiv anzunehmen, dass sich eine Situation in 24 Stunden durch eine Revolution ändern lässt. Wir haben in Iran vor gut 40 Jahren eine Revolution erlebt. Das reicht, das ist mehr als genug. Doch andererseits bin ich nicht sicher, ob Irans Autoritäten weise genug sind, Reformen anzugehen.
Um die Gegenwart zu verstehen, muss man die Vergangenheit verstehen: Das ist ein Motiv ihrer Werke. Sie arbeiten als eine Art Geschichtsschreiber – das zeigt sich nicht nur in ihrem vorletzten Roman "Ein standhafter Papagei" von 2018. In dem Buch beschreiben sie die iranische Revolution von 1979 und die Monate zuvor. Warum ist es wichtig, in der Geschichte zurückzureisen?
Weil wir Iraner – und vermutlich gilt das für jede Nation – unsere Vergangenheit verstehen müssen, um unsere Gegenwart zu verstehen. Zumindest für mein Land ist das unerlässlich, denn manchmal wiederholen wir dieselben Fehler. Deshalb ist die Geschichte sehr wichtig für mich. Wenn sie mich in meinem Arbeitszimmer besuchen, werden sie feststellen, dass ich mehr Bücher über Gegenwartsgeschichte besitze als Romane, Gedichtbände oder Bücher der klassischen Literatur. Unsere Gegenwart ist auf das Engste mit der Vergangenheit verbunden – und das wird ganz offensichtlich, zum Beispiel wenn sie die aktuelle Machtkonstruktion in Iran betrachten.
Dennoch sind meine Romane Fiktion. Meine Arbeit funktioniert auch für die Leser, die sich nicht mit der Geschichte des Irans auskennen. Ich hoffe, dass die Leser meine Geschichten auch einfach nur genießen können.
Fokus des Romans "Der standhafte Papagei" ist die Revolution. Was bedeutet die Revolution von 1979 für jüngere Menschen im heutigen Iran – konkret für Menschen, die unter 40 Jahre alt und die zurzeit größte Altersgruppe sind?
Viele von ihnen sehen in der Revolution einen Fehler, einen Misserfolg und eine schlechte Erfahrung. Als ich "Der standhafte Papagei" schrieb, wollte ich zeigen, dass man in jeder Tragödie auch unterhaltsame Momente entdecken kann. Für mich hatte die Revolution, möglicherweise gilt das für jede Revolution, auch lustige Momente. Dafür steht beispielhaft der Papagei, den ich in meinem Roman beschreibe. Er sitzt in einem Käfig und wiederholt immerzu "Lang lebe der Schah" – und zwar zu einem Zeitpunkt, als sich die Zeiten längst gewandelt haben und der Schah außer Landes geflohen ist. Mit meinem Roman wollte ich die Jüngeren daran erinnern, dass die Revolution Teil unserer Vergangenheit ist – egal, was man von ihr hält. Außerdem wollte ich parallel zum offiziellen Narrativ der Revolution ein anderes Narrativ präsentieren.
Ihr Roman wurde auf Deutsch publiziert, nicht auf Persisch. Seit Jahren werden ihre Bücher in Iran zensiert. Wie gehen sie damit um?
Seit 2005 – seit 15 Jahren also – konnte ich keinen meiner neuen Romane in Iran veröffentlichen. Während dieser Zeit wurden mehrere neue Romane von mir in verschiedenen Sprachen veröffentlicht – dazu zählt auch Deutsch, aber eben nicht Persisch. Einige Bücher, die ich vor 2005 herausgebracht habe, können noch in Iran veröffentlicht werden, wenn auch nicht alle.
In Iran werde ich außerdem von den staatlich gelenkten Medien boykottiert. Ebenso darf ich keine Lesungen im Rahmen öffentlicher Kulturveranstaltungen abhalten. Die Situation ist sehr schwierig für mich – die Autoritäten versuchen, die unabhängigen Stimmen zu ersticken.
Lassen Sie uns noch auf Iran und die Region blicken. Im Irak kommt es immer wieder zu Protesten gegen die Regierung und gegen die grassierende Korruption; auch im Libanon gehen die Menschen auf die Straße. Manche Beobachter sehen in den Demonstrationen eine mögliche neue Bewegung, eine Art Arabischen Frühling 2.0. Sie waren skeptisch über die Auswirkung des Arabischen Frühlings, als dieser in Tunesien 2010 seinen Anfang nahm. Wie bewerten sie die aktuelle Situation? Welche Auswirkung haben diese Proteste auf Iran?
Vielleicht lassen sich die Iraner von den Protesten etwas inspirieren. Aber wissen sie, die Iraner haben ihre eigene Geschichte und die unterscheidet sich von der der anderen Länder in der Region. Iran war das erste Land in der Region mit einer konstitutionellen Revolution in 1906. Iran war auch das erste Land, das seine Ölvorräte verstaatlichte. Wir haben auch als erstes Land durch eine Revolution die Monarchie in eine Republik verwandelt, mit der Revolution 1979. Ich möchte nicht ausschließen, dass sich Iran durch andere Länder in der Region inspirieren lässt, aber die Iraner folgen meist ihren eigenen Regeln.
Die politische Spannung in der Region bleibt hoch. Eine weitere Eskalation ist nicht auszuschließen. Eint die Angst vor einem Krieg und der internationale Druck die Iraner, sodass sie sich loyal zum Regime verhalten?
Es gibt nichts, damit sich die Iraner loyal zum Regime verhalten würden. Aber die schreckliche Situation in der Region macht die Menschen vorsichtig. Wir müssen feststellen: Wenn das Regime an Macht verliert und Iran in Richtung Instabilität abgleitet, kann das den Boden für den Islamischen Staat bereiten und dem Land ein Bürgerkrieg drohen. Die Menschen in Iran – zumindest die Mittelklasse – weiß, was zum Beispiel in Syrien passiert ist. Das möchten die Iraner vermeiden – und die Angst davor spielt dem Regime in die Hände.
Das Interview führte Sonja Ernst
Original-Text: Bundeszentrale für politische Bildung, Amir Hassan Cheheltan, CC BY-NC-ND 4.0
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