Der Handlungsraum von NGOs und Aktivist:innen schrumpft, und zwar weltweit. Zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle „Atlas der Zivilgesellschaft“. Wir sprachen mit Silke Pfeiffer über Überwachungsexporte, digitalen Kolonialismus und die Proteste im Iran.
Seit 2018 veröffentlicht das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt jährlich den Atlas der Zivilgesellschaft. Der Atlas wird in Zusammenarbeit mit CIVICUS, einem Netzwerk für Bürgerbeteiligung, herausgegeben und berichtet über die weltweite Lage der Zivilgesellschaft.
Der diesjährige Band beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen der Digitalisierung. Neben dem CIVICUS-Report über die zivilgesellschaftlichen Freiheiten in einzelnen Ländern enthält er Texte über zivilgesellschaftliche Organisationen im Spannungsfeld von Sozialen Medien und staatlicher Überwachung.
Darüber haben wir uns mit Silke Pfeiffer unterhalten. Sie ist seit 2015 bei Brot für die Welt tätig und leitet dort seit 2019 das Referat Menschenrechte und Frieden, welches sich unter anderem für den Schutz bedrohter Partnerorganisationen und Menschenrechtsverteidiger:innen einsetzt.
netzpolitik.org: Im Atlas stellen Sie fest, dass der Handlungsspielraum zivilgesellschaftlicher Organisationen und Aktivist:innen immer enger wird. In welchem Zusammenhang steht dieser Befund zum Internet und zur Digitalisierung?
Silke Pfeiffer: Einerseits ist der digitale Raum wichtig, weil sich dort die Zivilgesellschaft organisiert und ausdrückt. Andererseits wird das naturgemäß von autokratischen Regimen oder von Menschen, die kein Interesse an zivilgesellschaftlicher Kritik haben, ungern gesehen. Sie haben deshalb in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten entsprechend aufgerüstet, um zivilgesellschaftliches Engagement im digitalen Raum einzuschränken. Das reicht von Überwachung in den sozialen Netzwerken bis hin zur Abschaltung bestimmter Dienste oder sogar des Internets in einer Region. Teilweise gibt es auch Zensurgesetze, die aufs Internet abzielen. Wer sich in Sozialen Medien kritisch äußert, kann vor Gericht gestellt werden. Hasskriminalität im Internet ist auch ein Problem, das viele Menschen davor abschreckt, sich offen zu äußern und zu engagieren. Desinformation und Fake News spielen dabei ebenfalls eine große Rolle.
netzpolitik.org: Ein Kapitel im Atlas ist überschrieben mit „Überwachungsstaat: Made in Europe“. Dort heißt es, dass 171 der weltweit insgesamt 528 Unternehmen, die Überwachungstechnologien verkaufen, im Jahr 2018 ihren Sitz in der EU hatten. Welche Verantwortung tragen wir in Europa für die Verfolgung von Oppositionellen weltweit?
Silke Pfeiffer: Wenn Überwachungstechnologien an autokratische Regime etwa in Ägypten oder in der Türkei exportiert werden, laufen sie Gefahr, in den falschen Händen zu landen. Produkte, die beispielsweise in der Strafverfolgung legal sind, können so schnell für menschenrechtlich überaus fragliche Zwecke eingesetzt werden, beispielsweise für die Überwachung von Oppositionellen, Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen. Wir alle – und nicht zuletzt die politisch Verantwortlichen – müssen daher viel stärker darauf achten, dass wir etwa durch außenwirtschaftliche Entscheidungen und Praktiken bestehende Probleme nicht verstärken.
Im Atlas haben wir einen Fokus auf die israelische Späh-Software Pegasus gelegt. Diese wird zwar bisher nicht aus der EU in die weite Welt exportiert, dennoch kann man daran gut die verheerenden Folgen beobachten. Brot für die Welt hat viele Partner in verschiedenen Ländern, wie Mexiko oder Indien, die über Pegasus ausgespäht wurden. Die Software dringt in sämtliche Bereiche des privaten Lebens von Menschen ein und setzt sie einer großen Gefahr aus. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass der Export von Überwachungstechnologien stark reglementiert wird und einer menschenrechtlichen Prüfung unterliegt.
netzpolitik.org: Kennen Sie Partnerorganisationen, die von Pegasus überwacht wurden?
Silke Pfeiffer: Im Atlas gibt es ein Interview mit Yesica Sánchez Maya von der Frauenrechtsorganisation Consorcio Oaxaca, die mithilfe von Pegasus ausgespäht wurde. Consorcio Oaxaca ist ein Partner von uns und hat bisher 109 Menschenrechtsverteidiger:innen und 27 Journalist:innen identifiziert, die mit der Software ausspioniert wurden.
Gerichtsprozesse wegen regierungskritischer Posts
netzpolitik.org: Können Sie in der Rückschau auf die vergangenen Jahre sagen, wie sich die Arbeit der Partnerorganisationen verändert hat?
Silke Pfeiffer: Die zivilgesellschaftlichen Handlungsräume sind zunehmend eingeschränkt worden. Gemeinhin wird dafür der Begriff shrinking spaces genutzt. Pegasus ist nur eines von vielen Beispielen dafür, mit welchen Hürden, Lasten und Bedrohungen Partnerorganisationen, aber auch viele andere Aktivist:innen weltweit täglich zu kämpfen haben.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Mitglied einer Partnerorganisation aus Indonesien hat in einem privaten Social-Media-Post eine kritische Bemerkung über die Regierung gemacht und jetzt einen Prozess am Hals. Anderen Partnerorganisationen, beispielsweise in Nicaragua, hat die dortige Regierung die Registrierung entzogen, die dürfen nun nicht mehr arbeiten. Das alles erfolgt mithilfe ominöser Gesetze, mit denen der Staat es NGOs untersagt, sich als Vereine eintragen zu lassen. Es wird also viel unter dem Deckmantel von Gesetzen organisiert. Selbst große Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International müssen in einzelnen Ländern befürchten, dass sie per Gesetz gezwungen werden, ihre Arbeit zu beenden.
In manchen Ländern werden Aktivist:innen kriminalisiert, sie erhalten Todesdrohungen und werden tatsächlich ermordet. Es gibt viel Hasskriminalität – nicht nur in den Sozialen Medien, sondern auf allen Ebenen. Daher überlegen Partnerorganisationen, wie sie sich schützen können und Brot für die Welt versucht, sie dabei zu unterstützen. Wir helfen ihnen dabei, sicherere Kommunikationskanäle und Verschlüsselungstechnologien zu verwenden oder wir fördern die Installation von Alarmanlagen in ihren Büros. Vor allem aber sehen wir unsere Aufgabe darin, unsere Regierungen dazu aufzufordern, sich vor Ort für diese Menschen und Organisationen einzusetzen, beispielsweise über die deutschen Botschaften im Ausland. Es geht darum, die Problematik zum Thema in den internationalen Beziehungen zu machen und auf der Agenda zu halten.
netzpolitik.org: Heißt das, die Partnerorganisationen spüren keine starke Einschüchterung, müssen aber wesentlich mehr Ressourcen für den eigenen Schutz aufbringen?
Silke Pfeiffer: Das kann man nicht pauschal beantworten, weil die Situation in den einzelnen Ländern duchaus unterschiedlich ist. Man muss also jedes Land gesondert betrachten. In Russland erleben wir zum Beispiel, dass die Repression in den zurückliegenden Jahren unglaublich zugenommen hat. Zahlreiche Medienhäuser wurden geschlossen und Journalist:innen verhaftet. Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen versuchen viele, weiter in dem Land zu arbeiten. Andere gehen ins Exil und machen von dort aus weiter. Wieder andere haben zu große Angst, ihre Arbeit fortzusetzen, weil die Risiken für sie schlichtweg zu hoch sind,.
Ich finde es immer wieder beeindruckend, welche Risiken Menschen in Kauf nehmen, wie wir es gerade auch im Iran sehen. Da ist es wichtig, dass es eine breite internationale Unterstützung gibt. Ich glaube, Einschüchterung ist schon vorhanden. Aber man sieht eben auch, dass es überall auf der Welt immer wieder wahnsinnig mutige und engagierte Leute gibt, die größte Hürden überwinden.
„Die Mobilisierung der iranischen Frauen ist ein riesengroßer Lichtblick“
netzpolitik.org: Sie haben gerade die Proteste im Iran angesprochen. Der Iran ist auf der Karte des CIVICUS-Monitors dunkelrot eingefärbt.
Silke Pfeiffer: Das symbolisiert, dass die dortige Gesellschaft über einen geschlossenen Handlungsspielraum verfügt. Die Menschen, die sich dort engagieren und auf die Straße gehen, gehen sehr große Risiken ein und zahlen mitunter einen hohen Preis dafür. Das iranische Regime duldet kein zivilgesellschaftliches Engagement, es lässt Aktivist:innen willkürlich verhaften und zum Teil auch ermorden.
netzpolitik.org: Bestätigen die aktuellen Proteste im Iran die Thesen des Atlas oder müssen bestimmte Ergebnisse neu bewertet werden?
Silke Pfeiffer: Die Mobilisierung der iranischen Frauen ist zunächst ein großer Lichtblick. Allerdings wissen wir noch nicht, welche Folgen die Proteste haben werden. Daher unterstreichen diese Entwicklungen nur einmal mehr, wie wichtig zivilgesellschaftliches Engagement ist.
netzpolitik.org: Was können wir aus Ihrer Sicht tun, um die Proteste von Europa aus zu unterstützen?
Silke Pfeiffer: Die Entwicklungen im Iran unterstreichen, dass die internationale Gemeinschaft dieses Engagement mit Nachdruck unterstützen muss. Gerade in diesen Tagen zeigt sich, wie abhängig wir von autokratischen Regimes sind. Gleichzeitig verdeutlichen die Proteste im Iran , dass es handfeste Folgen hat, wie wir unsere internationalen Beziehungen gestalten und mit welchen Regierungen wir Geschäfte eingehen. Es ist wichtig, dass wir die Menschenrechtsprobleme in den Beziehungen zu diesen Ländern offen ansprechen und den hohen menschenrechtlichen Preis nicht ausblenden, den so manche Geschäfte nach sich zieht.
Das Beispiel Russland zeigt, was passiert, wenn in einem Land jedwede Opposition und jede Form des Widerspruchs weitgehend ausgeschaltet werden. Dann kann es passieren, dass sich ein regionales Menschenrechtsproblem in ein globales Sicherheitsrisiko verwandelt. Ich glaube, diese Lektion verdauen wir im Augenblick gerade alle noch.
Datenausbeutung im globalen Süden
netzpolitik.org: Im Atlas fällt der Begriff „Digitaler Kolonialismus“. Was ist damit gemeint?
Silke Pfeiffer: Damit ist zum einen gemeint, das sich Tech-Konzerne, die im globalen Norden ansässig sind, ihren Vorteil aus dem mangelnden Datenschutz in vielen Ländern des globalen Südens ziehen und massiv Daten extrahieren, ohne dass die Nutzer:innen dies beeinflussen können. Zum anderen bedingt die extreme Dominanz von Tech-Giganten wie Facebook auch eine westlich geprägte Sicht auf das Internet. Diese Dominanz führt auch dazu, dass viele Akteure die Kontrolle über wichtige Räume verlieren, weil Debatten oder Kampagnen auf privaten Plattformen stattfinden, die sie nicht beeinflussen können.
netzpolitik.org: Was bedeutet das für die Zivilgesellschaft in Ländern des globalen Südens?
Silke Pfeiffer: Es geht zunächst einmal darum, Bewusstsein für diese Schieflage zu schaffen und dazu aufzurufen, sich neue Technologien zu eigen zu machen und Mitspracherechte einzufordern, etwa wenn es um Regulierung geht.
netzpolitik.org: Spiegelt sich die historische Verantwortung Deutschlands in diesem Zusammenhang auch in euren Forderungen am Ende des Atlas?
Silke Pfeiffer: Unsere Forderungen richten sich in erster Linie an die deutsche Bundesregierung und den Bundestag. Hier wollen wir zum einen an jenen Stellen anzusetzen, wo deutsche oder europäische Politik bestehende Probleme verstärkt. Zum anderen erwarten wir von unseren Politiker:innen, dass sie sich in ihren internationalen Gesprächen und Beziehungen hinter zentrale Forderungen zivilgesellschaftlicher Akteure aus dem globalen Süden stellen. Diese Forderung leiten wir auch aus einer historischen Verantwortung ab.
netzpolitik.org: Im Atlas wird das emanzipatorische Potenzial der Sozialen Medien beschrieben, aber auch die Gefahren, die von der Macht der Plattformen und dem Einfluss von Regierungen ausgehen. Vor welchen Schwierigkeiten stehen zivilgesellschaftliche Organisationen heute mit Blick auf die Sozialen Medien?
Silke Pfeiffer: Viele Protestbewegungen können nur existieren, weil sie sich über das Internet organisieren und dort mobilisieren können. Gleichzeitig sind die Sozialen Medien aber auch ein Ort, an dem Hasskriminalität stattfindet und Fake News verbreitet werden. Und das schneller und weitaus massiver als im analogen Raum. Im Atlas gehen wir der Frage nach, ob und wie man die Sozialen Medien vor diesem Hintergrund regulieren sollte. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Dennwir müssen weiterhin die Meinungsfreiheit hochhalten und Overblocking durch die Plattformen vermeiden, die aus Sorge vor Strafen alle fraglichen Postings kurzerhand löschen. Einige Länder haben da mittlerweile sinnvolle Regulierungen vorgenommen, auch wenn diese Beispiele auch immer wieder zeigen, wie wichtig es ist, dass Nutzer:innen Widerspruch gegen die Entscheidungen der Plattformen einlegen können.
Ein Kernproblem bleibt jedoch bestehen, nämlich dass auf den Plattformen polarisierende und emotional aufgeladene Inhalte mehr Verbreitung finden als andere. Sie bringen den Konzernen damit auch mehr Geld. Es gibt also einen selbstverstärkenden Mechanismus, der diesen Tendenzen hin zu Falschinformation und Hassrede Vorschub leistet – was wiederum die Wirklichkeit verzerrt. Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen, dass hinter diesen Plattformen große Konzerne stehen, die mit diesen Medien viel Umsatz machen und welche Alternativen dazu bestehen.
„Alarmanlagen in den Büros allein reichen nicht aus“
netzpolitik.org: Wie kann sich die Zivilgesellschaft wirkungsvoller gegen staatliche Repression zur Wehr setzen?
Silke Pfeiffer: Es gibt mittlerweile sehr umfassende Konzepte. Klar ist, dass Alarmanlagen in den Büros allein nicht ausreichen. Man muss sich gut vernetzen und in sichere Kommunikation investieren. Psychosoziale Arbeit wird auch immer wichtiger, weil es für viele Menschen überaus traumatisch ist, unter diesen Umständen zu arbeiten. Sie brauchen Schutz, um an dem Druck nicht zu erkranken und einen Burnout zu erleiden. Wir sprechen daher mit der Bundesregierung auch über Programme, mit deren Hilfe wir besonders gefährdete Menschen schützen und notfalls auch außer Landes bringen können. Und für den Fall, dass die Aktist:innen ins Exil gehen, brauchen sie auch dort Unterstützung, um ihre Arbeit fortführen zu können.
netzpolitik.org: Der Atlas der Zivilgesellschaft wurde bereits vor über einem halben Jahr veröffentlicht. Was für ein Echo hat er bisher erzeugt?
Silke Pfeiffer: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gab es ein großes Medieninteresse und auch einige Veranstaltungen von Brot für die Welt. Wir haben den Eindruck, dass der Atlas sich als Referenz etabliert hat, insbesondere in der Politik. Er wird seit zwei Jahren auch ins Englische übersetzt, damit wir leichter mit unseren internationalen Partnern über diese Themen ins Gespräch kommen können. Und wir wollen auch mit jüngeren Leuten ins Gespräch kommen. Unter anderem dafür organisieren wir in der kommenden Woche eine Veranstaltung in Berlin. Weil wir auch gerne von anderen Gruppen hören wollen, was sie beschäftigt, wie sie auf die Dinge schauen und wie wir vielleicht aus unseren unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam daran arbeiten können, dass sich die Situation für die Zivilgesellschaft verbessert.
netzpolitik.org: Spielen der Krieg in der Ukraine und die Proteste im Iran dabei eine Rolle?
Silke Pfeiffer: Ja, die Veranstaltung steht ganz klar unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der Proteste im Iran. Vor Ort werden neben vielen anderen die „War-Influencerin“ Mariia Bilenka sowie die Aktivistinnen Angelina Davydova und Olga Yurkova aus der Ukraine sein, die über russische Gräueltaten und Fake News aufklären. Die Journalistin Shahrzad Osterer wird über die aktuellen Entwicklungen im Iran sprechen und Santiago Aguirre, der mit Pegasus ausgespäht wurde, berichtet von seinen Erfahrungen aus Mexiko.
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