In dem Buch „Die mutigen Frauen Irans“ von Natalie Amiri und Düzen Tekkal erzählen 15 Frauen im Iran und im Exil ihre bewegenden Geschichten. Sie sprechen über ein Leben ohne Rechte, aber mit Sittenwächtern, über patriarchale Strukturen und eine neue Generation von Männern, über Gewalt, Erniedrigung, Entmündigung und wirtschaftliche Not. Ihre Botschaften sind erschütternd, zutiefst berührend und zugleich voller Mut und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Eine Leseprobe mit einem Bericht der iranischen Aktivistin Leily.
Leily, 26, Anonym
Für mich ist Freiheit, wenn ich, ohne bedroht zu sein, sprechen und meine Meinung äußern und das verteidigen kann, was ich beabsichtige und erwarte
An einem Tag gehe ich auf die Straße und bin auf einmal voller Hoffnung und guter Laune. Wenn ich es recht bedenke, ist alles sehr abhängig von der Art der Präsenz der Mitmenschen um mich herum. Für mich vollzieht sich die Gegenwart auf der Straße auf zwei verschiedenen Ebenen: An einem Tag protestieren wir, an einem anderen Tag gehen wir aus dem Haus, nur um etwas zu erledigen. Aber in beiden Fällen ist es so, dass die Anzahl der Menschen, ihre Präsenz und die Art und Weise, wie sie gekleidet sind, wie sie sich benehmen, eine Auswirkung hat auf unser Gemüt. Und das ändert sich von Tag zu Tag. Es gibt Zeiten, in denen ich erfüllt bin von Hoffnung, ich fühle, dass wir unser Vorhaben erreichen können. Und es gibt Tage, an denen ich enttäuscht bin, von dem, was um mich herum passiert, von der geringen Anzahl protestierender Menschen, oder auch von der Gleichgültigkeit anderer.
Der Tod ist nur ein Moment, aber das Gefängnis, das auf uns wartet, ist viel beängstigender als der Tod, dort stirbt man jeden Moment und jede Stunde
Welche Gedanken kommen mir in den Sinn, wenn ich das alles sehe und erlebe? Selbstverständlich bin ich voller Wut, auch weil ich weiß, wie ungerecht die iranischen Haftbedingungen sind. Es ist nicht einmal annähernd das, was allgemeingültig als Gerechtigkeit empfunden werden würde. Und um ehrlich zu sein – ich spreche über mich, nicht über die Menschen um mich herum –, im Moment ist die Vorstellung an eine Haft mein schwächster Punkt. Immer wieder habe ich meiner Familie und meinen Freunden gesagt, dass ich lieber während einer Demonstration sterben möchte, als in einem Gefängnis der Islamischen Republik zu landen. Der Tod ist nur ein Moment, aber das Gefängnis, das auf uns wartet, ist viel beängstigender als der Tod, dort stirbt man jeden Moment und jede Stunde.
Es gibt mir Hoffnung, wenn ich sehe, wie viele starke und respektable Persönlichkeiten in unserem Land existieren. Sie waren die ganze Zeit da, haben sich nicht für einen Moment von uns entfernt. Hossein Ronaghi (bekannter iranischer Blogger, der nach einem Hungerstreik im November 2022 aus der Haft entlassen wurde, Anm. d. Red.) und Hamed Esmailiyoun (iranisch-kanadischer Aktivist, dessen Frau und Tochter bei dem Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine durch die iranische Revolutionsgarde ums Leben kamen. Er organisierte zahlreiche internationale Proteste gegen das Mullah-Regime, darunter auch im Oktober 2022 in Berlin, Anm. d. Red.) – ich freue mich, dass sie meine Landsleute sind, das ermutigt mich.
Dass es solche Menschen gibt, lässt mich hoffen, dass es dann, wenn wir die Revolution gewinnen, ehrliche und mitfühlende Menschen an der Spitze des Landes geben wird. Das tut mir gut. Und noch etwas gibt mir die Verpflichtung weiterzumachen: Dass es Familien gibt, die in all den Jahren ihre geliebten Menschen verloren haben oder deren Kinder in Gefängnissen sitzen. Dieser Umstand motiviert mich, nicht aufzugeben, stark zu bleiben. Wenn ich Menschen sehe, die noch leben, die zusammenhalten, die immer noch weiter machen, dann bekomme ich Selbstvertrauen, ich fühle mich dann viel besser. Das gibt mir darüber hinaus auch noch das Gefühl der Verantwortung. Ich denke, wir sind verpflichtet, die geliebten Menschen, die diese Familien verloren haben, zu rächen. Das hilft mir, aus dem Zustand der Niedergeschlagenheit und Depression herauszukommen, in den ich von Zeit zu Zeit falle.
Es mag sich sehr simpel anhören, aber ich habe wirklich festgestellt, dass ich womöglich vieles in Kauf nehmen muss, was mir schaden kann
Was ich am meisten vermisse ist, ruhig zu schlafen. Und noch mehr vermisse ich die Tage, an denen ich nicht jeden Morgen nach dem Aufwachen gestresst mein Handy in die Hand nehmen muss, um zu sehen, ob etwas Schreckliches passiert ist. Ich vermisse es, beim Essen nicht an tausend negative Dinge zu denken. Überhaupt vermisse ich einen normalen Alltag, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben und mich krank zu fühlen, weil ich überhaupt lebe.
Es musste erst eine Weile vergehen, bis ich einschätzen konnte: Wie vorsichtig bin ich? Wie opferbereit bin ich als Person?
Am Anfang war ich vielleicht ein bisschen zögerlicher als heute. Ich dachte, ich müsse vieles abwägen. Nun sind mehr als hundert Tage vergangen und wenn ich bedenke, was wir in diesem Zeitraum gesehen und durchgemacht haben, erkenne ich, dass mir eigentlich nichts wichtiger ist, als mein Ziel zu erreichen. In den letzten Monaten habe ich buchstäblich alles verloren: Meine Arbeit. Ich habe jahrelang geschuftet, um diese Stelle zu bekommen, und nun wurde alles innerhalb eines Monats vollständig zerstört. Auch viele Menschen in meinem Leben habe ich in letzter Zeit verloren, weil ich mit ihren politischen Einstellungen nicht konform ging; viel Geld habe ich verloren. Meine Ruhe und meinen gesunden Geist. Aber schließlich bin ich zu dem Schluss gekommen: Wenn man ein Ziel hat, und zwar ein großes, dann sind diese Dinge nicht von zentraler Bedeutung. Das Wichtigste ist, sich auf das zu konzentrieren, was man anstrebt – koste es, was es wolle. Auch, wenn es bitter ist. Es mag sich sehr simpel anhören, aber ich habe wirklich festgestellt, dass ich womöglich vieles in Kauf nehmen muss, was mir schaden kann.
Was mich selbst betrifft, überlege ich, was der nächste Schritt sein könnte und wo ich nach diesen Ereignissen stehen werde, was ich effektiv tun kann. Was kann ich der Gesellschaft, meinen Mitmenschen schenken? Ich weiß, dass ich helfen möchte.
Genauso weiß ich, dass die nächsten Phasen dieser Revolution sehr schwierig sein werden.
Anders als viele Menschen möchte ich gar nicht, dass Khamenei stirbt. Ich will, dass Khamenei (seit dem Tod Ruhollah Chomeinis im Juli 1989 politisches und religiöses Oberhaupt des Iran sowie Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Anm. d. Red.) vor Gericht gestellt wird. Sollte er zu Tode kommen, glaube ich – das ist meine persönliche Einschätzung, für deren Richtigkeit es keine Gewähr gibt –, dass zwar moderatere Menschen an die Macht kommen, die sogar gewisse Freiheiten in der Gesellschaft zulassen werden, um das Volk zufrieden zu stellen. Das Mullah-Regime aber wird fortbestehen. Deshalb hoffe ich auf den Tag, an dem Khamenei vor Gericht steht.
Wir wissen, dass wir, wenn alles so weitergeht, keine Zukunft haben
Ich denke, es geht hier nicht nur um Mut und Tapferkeit. Aber dennoch können wir sagen, dass das, was wir heute machen, auch eine Frage des Mutes ist. Deshalb beschäftigt uns auch immer wieder die Frage, warum die Generationen vor uns weniger Mut aufgebracht haben. Meiner Ansicht nach liegt das daran, dass wir viel weniger zu verlieren haben als vorherige Generationen.
Wir wissen, dass wir, wenn alles so weitergeht, keine Zukunft haben. Die wirtschaftliche Situation lässt uns nicht einmal an Auswanderung denken. Wir haben keine Grundlage, auf der wir ein Leben aufbauen können und wollen. Wir wissen: Entweder müssen wir kämpfen und diesen Strom überqueren oder wir verändern nichts. Dann aber werden wir von Tag zu Tag schwächer, sei es wirtschaftlich oder psychisch. Und wir bleiben in unserer Freiheit beschränkt. Dann macht es keinen Unterschied, ob wir leben oder tot sind.
Ich denke, dass das der Grund ist, warum unsere Generation bereit ist, Opfer zu bringen, weil sie keine Zukunft für sich sieht. Und alles, was sie will, hängt davon ab, was in diesen Tagen passieren wird. Vielleicht hatten frühere Generationen in unserem Alter etwas erreicht, was sie nicht verlieren wollten; zum Beispiel eine Familie und Kinder. Auch wirtschaftlich hatten sie vieles, was sie bewahren wollten, um ihre Familien zu ernähren. Aber all das haben wir nicht. Bald sind wir 25, 26 Jahre alt und nirgendwo angekommen. Keiner von uns verdient mit dem, was er studiert hat, genug, wir haben keine Ersparnisse. Keiner hat Angst seine berufliche Position eventuell zu verlieren, weil keiner eine solche Position erreicht hat.
Zweifellos wünsche ich mir, angesichts psychisch wie auch wirtschaftlich schwieriger Zeiten, die wir im Iran gerade durchmachen, die Unterstützung von anderen Nationen. Solidarität hilft uns, jede E-Mail und jeder Brief helfen uns, worin die Politiker des jeweiligen Landes aufgefordert werden, diplomatische Beziehungen mit dem Iran abzubrechen, um die Islamische Republik unter Druck zu setzen. Ich erwarte, dass Menschen in anderen Ländern, die sich mit uns solidarisieren, auch diesen Schritt unternehmen – und wissen, dass auch sie Einfluss nehmen können, weil der Druck von außen auf den Iran die Situation für uns zumindest ein wenig verbessern kann.
Wir sind viel realistischer als die vorherigen Generationen. Mit realistisch meine ich, wir haben eine viel klarere Einschätzung der Rechte, die uns eigentlich zustehen müssten. Ich denke, dass dies vorher nicht der Fall war. Vielleicht haben Iranerinnen und Iraner bis jetzt so gelebt und die Repressionen des Regimes ertragen, weil sie sich ihrer Rechte als Menschen nicht bewusst waren.
Aber jetzt ist das nicht mehr der Fall, meine Altersgenossen wissen, wie sie leben wollen, wie sie weitermachen, wie sie Geld verdienen, wie sie sich kleiden wollen, und sie wissen, dass sie ein Recht auf all das haben, und, dass das alles selbstverständliche Bedürfnisse eines jeden Menschen sind. Während frühere Generationen mehr akzeptierten, stellt unsere Generation Fragen. Sie will überzeugende Begründungen und lässt sich von schlichten Antworten oder durch Gewalt nicht ruhigstellen, und sie tut, was richtig ist, und was sie tun will.
Normalerweise trage ich einfache Kleidung und einen Rucksack, den ich bei mir habe, wohin ich auch gehe. Darin befinden sich zusätzliche Masken, Mineralwasser, Zigaretten, Feuerzeug, eine Packung Feuchttücher für den Fall, dass sie mit Paintballkugeln auf uns schießen. Auch Sprachbücher oder Sportschuhe sind immer im Rucksack. Denn falls ich festgenommen werde oder jemand meinen Rucksack durchsucht, kann ich sagen, ich war unterwegs zum Sprachinstitut oder ins Fitnessstudio. Zu Beginn sagten wir uns gegenseitig, wir sollen kein Handy mit uns führen. Oder wenn, dann kein Smartphone. Aber jetzt wird denjenigen, die bei der Festnahme kein Smartphone oder kein Handy haben, vorgeworfen, Anführer:in zu sein, deshalb nehme ich mein Handy mit, aber ich lösche täglich alles.
Die Schlägertrupps des Regimes haben ein Mädchen vor unseren Augen getötet und nahmen es mit. Ich warte seit neunzig Tagen darauf, dass eine Nachricht über dieses Mädchen veröffentlicht wird, aber nichts passiert. Das beweist, dass die Zahl der getöteten Menschen, die Zahl der Gefangenen und der täglichen Verbrechen so hoch ist, dass man nicht mehr damit nachkommt, darüber zu berichten. Wir wissen, dass da viel mehr ist als das, wovon wir Kenntnis haben; ja, dass wir nicht einmal über ein Tausendstel der Gewalttaten Bescheid wissen, die unseren Landsleuten, den Gefangenen und den Menschen auf der Straße widerfahren.
Ich erinnere mich genau, dass ich an diesem Tag vor Angst auf der Straße geweint habe
Das erste Mal, als ich an einer Demonstration gegen das Kopftuch teilnahm – für mich war es überhaupt das erste Mal, dass ich an Straßenprotesten teilnahm –, ging ich mit einer Freundin hin. Ich will jetzt gar nicht darüber sprechen, wie viel Angst wir hatten und wie seltsam diese Erfahrung war, diese Angst, aber auch diese große Wut zu spüren. Ich erinnere mich genau, dass ich an diesem Tag vor Angst auf der Straße geweint habe. Ich habe vor Angst geheult. In diesem Moment wusste ich aber auch, dass mein Zorn und meine Wut über die Ermordung von Mahsa größer waren. Und mir wurde klar, dass jedes Verbrechen, das die Islamische Republik begeht, für uns viel mehr ist als ein einzelnes Verbrechen, denn es erinnert uns an alles Unrecht und alle Leiden, die uns in diesen Jahren zugefügt worden sind. Ich weine und denke gleichzeitig an all die Kinder, die im Flugzeug saßen, das von der Revolutionsgarde abgeschossen wurde; an all die Menschen in Gefängnissen, die auf ihr Gerichtsurteil, auf ihre Hinrichtung warten; an die Menschen in Einzelzellen, an alle, die bis jetzt getötet oder gefoltert wurden. Das ist eine riesengroße Wut und ein Groll, die wir als Generation in uns spüren, und die uns nicht zur Ruhe kommen lassen, so dass wir nicht mehr zu Hause sitzen bleiben können.
Mir ist durchaus bewusst, was mir alles passieren kann. Viele Menschen aus meinem Umkreis sind in dieser Zeit verhaftet worden. Der einzige Weg, um meine Angst zu überwinden, ist das Verantwortungsbewusstsein, das ich habe. Die Angst ist also da, alles ist wirklich beängstigend. Ich weiß, dass das Regime keine Gnade kennt. Sie können dir alles antun, aber leider oder zum Glück haben wir nichts mehr zu verlieren. Und das reduziert meine Angst. Das liegt natürlich auch daran, dass wir viel darüber sprechen, was passieren könnte. Wenn du jeden Tag ein sich wiederholendes Szenario hast – nun nicht immer wiederholend, aber nicht mehr so überraschend –, dich jeden Tag so sehr mit diesen Gedanken auseinandersetzt, dann kommt ein Moment, ab dem du dich daran gewöhnst und die Angst minimiert ist.
Meine größte Sorge ist, dass auch meine Eltern mit hineingezogen werden, wenn mir etwas passiert
Meinen Eltern habe ich es in den ersten Tagen verschwiegen, dass ich an den Protesten teilnehme. Erst nachdem ich wieder zurück war, erzählte ich ihnen, dass wir zu den Protesten gegangen sind und was alles passiert war. Als ich zum ersten Mal mit meiner Mutter und meinem Vater darüber sprach, reagierte mein Vater sehr schockiert und meine Mutter weinte. Meine Mutter war zudem wütend, weil ich sie nicht vorher informiert hatte. Nachdem wir lange miteinander gesprochen hatten, sagte sie etwas zu mir, das ich nie vergessen werde. Sie sagte, Kind, ich weiß, du bist auch Teil dieser jungen Generation, die eine bessere Zukunft möchte. Versprich mir nur, dass du nie allein etwas unternimmst, und dass du auf dich aufpasst.
Nach diesem Gespräch ging es mir besser, auch weil ich begriff, wie offen meine Eltern mit diesem Thema umgehen und dass wir vielleicht sogar gemeinsame Wünsche haben. Ich bin sehr froh, dass ich mit meinen Eltern keine Differenzen habe. Tatsächlich bin ich sogar stolz darauf, dass meine über 50-jährige Mutter auf Instagram Texte für junge, kämpfende Menschen postet. Und ich bin froh, dass mein Vater kein Spießbürger ist. Meine größte Sorge ist, dass mir etwas passiert, was meinen Eltern Schwierigkeiten bereitet. Das belastet mich. Vielleicht ist es sogar das einzige Problem, auf das ich noch keine Antwort gefunden habe. Doch dann gewinne ich jedes Mal Zuversicht, indem ich mich an das Gespräch mit meiner Mutter erinnere, bei dem sie sagte: Wenn du auf die Straße gehst, hast du in diesem Moment weder Eltern, noch Familie. Es gibt nur dich und dein Heimatland, das es zu beschützen gilt. Du kannst nicht dafür garantieren, dass es keine Konsequenzen für uns gibt. Das musst du akzeptieren.
Wir wissen: Entweder müssen wir kämpfen und diesen Strom überqueren oder wir verändern nichts.
Aus:
Natalie Amiri, Düzen Tekkal:
Die mutigen Frauen Irans. Wir haben keine Angst!
Elisabeth Sandmann Verlag
ISBN 978-3-949582-20-2
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