Die moderne Frauenbewegung im Iran
Von Hamid Mohseni
Die Frauenbewegung ist die stärkste und wichtigste soziale Bewegung im Iran und hat eine Ausstrahlung weit über das Land hinaus. Schon immer musste sie sich gegen unterschiedliche Widersacher*innen durchsetzen. Selbst einer der am meisten frauenverachtenden Staatsformen der Welt – die Islamische Republik Iran (IRI) – konnte sie nicht besiegen. Wenn es einen umfassenden Wandel im Iran geben wird, werden Frauen eine zentrale Rolle spielen.
Konstitutionelle Revolution und das neue iranische Narrativ
Die frühe Phase der modernen Frauenbewegung des Iran lässt sich in die Zeit um die Konstitutionelle Revolution (1905-1911) verorten. Eine landesweite Protestbewegung erkämpfte erstmals eine Verfassung und setzte das erste Parlament (Madschles) durch, das fortan die absolute Macht der Monarchie einhegen sollte.
Bibi Khanoum Astarabadi (1858-1921) war eine prominente Feministin dieser Zeit und gleichzeitig eine der wichtigen Figuren der Konstitutionellen Revolution. Sie schrieb 1895 das polarisierende Pamphlet «Die Mängel der Männer» als Einspruch gegen das in Bildung und Gesellschaft vermittelte Rollenbild, das Frauen als defizitär darstellte. Das Bewusstsein für die Gleichstellung der Geschlechter nahm zu, und das neu aufkommende Narrativ der iranischen Nation war davon geprägt. Dennoch war die erste Madschles rein männlich besetzt, Frauen wurden per Dekret von demokratischen Prozessen ausgeschlossen.[1]
Trotzdem, oder genau deswegen, formulierten Frauen immer lauter den Anspruch, gleichberechtigt zu dieser neuen Nation zu gehören. Im Fokus dieser Phase standen zunächst das Recht auf Bildung und die Schaffung von Frauenorganisationen sowie die Gründung von Zeitungen. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurden trotz staatlicher Interventionen und der Angriffe durch Konservative kleine Schulen für Mädchen gegründet und verteidigt. Parallel dazu sprossen (geheime) Frauenorganisationen aus dem Boden, die bereits im Sinne des neuen iranischen Narrativs ethnische und religiöse Minderheiten mitdachten. So entstanden Gruppierungen wie die «Gesellschaft für die Freiheit von Frauen», aber auch die «Gesellschaft christlicher Bildungsabsolventinnen im Iran» oder die «Zoroastrische und jüdische Frauenvereinigung». Sozialistinnen der Gruppierung «Botinnen für den Wohlstand von Frauen» organisierten am 8. März 1915 erstmals ein Fest zum Internationalen Frauenkampftag im nordiranischen Rascht.
All diese Gruppen hatten trotz unterschiedlicher ideologischer Ansichten den Ansatz eines selbstverwalteten Community-Organizing gemeinsam: Sie sammelten Geld, errichteten Schulen, entwickelten Bildungsprogramme und spendeten an Kranken- und Waisenhäuser. Die meisten Frauenorganisationen hatten einen nicht unerheblichen Teil männlicher Unterstützer. Diese breit auf- und intersektional eingestellte Frauenbewegung hatte maßgeblichen Anteil an der neuen, progressiven Kultur, die sich allmählich im Land ausbreitete, und die sich die letzte Schah-Dynastie bis heute gerne als ihr eigenes Schaffen auf die Fahne schreibt.
Pahlavi-Ära – Modernisierung von oben
Reza Schah kam 1925 an die Macht und legte den Grundstein für das Projekt «Modernisierung» – eine autoritäre Durchsetzung westlicher Standards für Ökonomie, Kultur und Ästhetik. Dazu zählte auch die formale Gleichstellung der Geschlechter, weswegen er die Anliegen der Frauenbewegung strategisch unterstütze. 1944 wurde Bildung auch für Mädchen verpflichtend. 1928 erhielten die ersten Frauen staatliche Unterstützung für Auslandsstudien, und 1935/36 wurde Frauen erstmals als Studierende in Teheran zugelassen.[2] Die Bewegung vernetzte sich über Landesgrenzen hinweg: Die Organisation «Frauenzentrum» hielt 1932 den «Zweiten Kongress orientalischer Frauen» in Teheran mit Frauenrechtlerinnen aus dem Irak, dem Libanon, Ägypten und Indien ab.
Aktivistinnen des «Frauenzentrums» – wie die international bekannte Journalistin Sediqeh Dowlatadabi – unterstützten 1936 Reza Schah bei der umstrittenen Entschleierungs-Reform, der die islamische Verhüllung für Frauen (Hidschab) untersagte. Gemäß seinen Vorbildern in der Türkei und im Westen hielt er es für «angemessen», dass Frauen auch öffentliche Posten besetzen könnten und dementsprechend aufzutreten hätten. Diese Zwangsentschleierung von oben wurde allerdings auch kritisiert. Viele konservative Frauen widersetzten sich diesem Gesetz und beschlossen, das Haus ohne Verhüllung gar nicht mehr zu verlassen und sich aus der Öffentlichkeit gänzlich zurückzuziehen. Es gab zudem zahlreiche Versammlungen wie jene in der religiösen Hochburg Maschhad im Juni desselben Jahres, bei der es zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften mit Hunderten Toten kam.[3] Die Hidschab-Frage wurde das erste Mal gestellt, und sie polarisierte die Gesellschaft.
1941 folgte mit Mohammed Reza Pahlavi der letzte Schah des Iran auf dem Thron. Er setzte die Linie des Vaters fort und inszenierte sich als Modernisierer und Verbesserer der Lage für Frauen im Land. Doch es waren diese selbst, die durch ihr unermüdliches Engagement Druck aufbauten für die gesellschaftliche Gleichstellung, die der Schah dann verordnete. 1959 verbündeten sich fünfzehn Organisationen zum «Hohen Rat der Frauenorganisationen des Iran» und forderten unter anderem das Frauenwahlrecht ein – mit Erfolg. 1963 wurde dieses im Zuge eines umfassenden, umstrittenen Gesetzespakets namens «Weiße Revolution» durchgesetzt. Dieses Bündnis wurde 1966 zur mächtigen, staatsnahen «Frauenorganisation des Iran».[4] Die vielen Frauenzentren im Land, die die Organisation ins Leben rief, betrieben Alphabetisierungskurse, Aufklärung zur Familienplanung sowie juristische Beratung. Ihre größte Errungenschaft bestand vermutlich im Familienschutzgesetz von 1975, das die Rechte von Frauen bei Scheidung, Sorgerecht, beim Mindestalter für Verheiratungen, bei islamischer Polygamie und Abtreibung massiv ausbaute. [5] Darüber hinaus gewannen Frauen im öffentlichen Dienst, im Militär, in der Justiz und in der Politik zunehmend an Repräsentation. 1969 erlangte beispielsweise die zukünftige Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtsaktivistin Shirin Ebadi den Richter*innenstatus.
Kritik am Schah und die Dialektik der Revolution
Diese Veränderungen konnten stattfinden, weil sich erstens engagierte Frauen organisierten und zweitens, weil die autoritären Pahlavi-Herrscher sie als Teil der Modernisierung nach westlichem Verständnis instrumentell duldeten. Das muss an dieser Stelle so deutlich formuliert werden, da viele (Exil-)Iraner*innen angesichts des traumatischen Backlashs durch die Mullahs dazu tendieren, den Schah als lupenreinen Demokraten und aufopferungsvollen Pro-Feministen zu romantisieren. Dass er aber selbst Frauen zu Objekten machte und sie als defizitär ansah, belegen Interviews mit den Journalistinnen Barbara Walters (1973) und Oriana Fallaci (1977): Darin befand der Schah, Frauen sollten in erster Linie hübsch und feminin sein, und so richtig formale Gleichstellung sei, hätten sie im Gegensatz zu Männern nichts Nennenswertes hervorgebracht.
Ein weiteres Problem an einer staatlich verordneten Befreiung der Frau ist die staatliche Verordnung selbst. Hier stellt sich grundsätzlich die Frage, inwiefern juristische und gesellschaftliche Rahmung tatsächliche Verbesserungen hervorgebracht haben. Quellen suggerieren, dass die Maßnahmen kaum bis gar nicht angenommen wurden. [6] Trotz des Familienschutzgesetzes hätten Scheidungen kaum zu-, ja sogar abgenommen: Wurden 1966 noch 165 von 1000 Ehen aufgelöst, sank die Zahl bis 1979 auf 74. Außerdem beklagten viele Frauen, dass der Schah eine der größten Ursachen der Frauenunterdrückung aus strategischen Gründen nicht anrührte: Das islamische Recht (Scharia) – in ländlichen Landesteilen häufig «ungeschriebenes Gesetz» – wertet Frauen in Fragen wie Witwenrente, interreligiöse Ehe und bei sogenannten Ehrenmorden vollkommen ab.
Während der Pahlavi-Zeit wurden unter Frauen kontroverse Debatten geführt, welches denn die beste Gesellschaftsform sei: die autoritäre Monarchie, eine liberale Demokratie wie im Westen oder doch der Kommunismus. Selbstverständlich verfolgten auch Frauen die globalen Umwälzungen der 60er und 70er-Jahre. Schon ihre Vorgängerinnen stellten sich wie zahlreiche zeitgenössische «nationale Befreiungsbewegungen» die Frage der Identität: Wer sind wir als Nation, wer wollen wir sein? Der von den USA und Großbritannien getragene Schah beantwortete dies überaus autoritär bzw. diktatorisch und wollte «Modernisierung» nach westlichem Standard erzwingen. Er verlor daher zunehmend an Unterstützung – nicht nur beim Klerus. Im Iran wuchsen schließlich auch anti-imperialistische und kommunistische Parteien mit Massenbasis heran – darunter auch ein beachtlicher Teil Frauen, die als Kommunistinnen gleichzeitig für Frauenrechte und gegen die Monarchie einstanden.
So kam es schließlich zu einer landesweiten revolutionären Bewegung gegen die Monarchie, die 1979 erfolgreich war und den Schah ins Exil zwang. Khomeini setzte sich als Revolutionsführer durch und rief die IRI aus. Doch ohne Kommunist*innen, die Volksmudschaheddin, Nationalist*innen und andere wäre diese Revolution nicht geglückt. Die an der Revolution beteiligten Frauen wussten, dass sie in Khomeini einen gefährlichen Bündnispartner hatten. Schließlich war dessen politische Heimat, der Klerus, seit Jahrzehnten der größte Gegner der Frauenbewegung. Und trotzdem machten sie die Abdankung des Schahs zu ihrer Priorität. Wie kam es dazu?
Hierfür gab es drei Gründe: Erstens war allen Beteiligten klar, dass der autoritäre und repressive Schah nur mit vereinten Kräften zu besiegen war, diese Allianz war eine strategische Notwendigkeit. Zweitens verbargen die Islamisten lange Zeit ihr wahres Gesicht, die Scharia war in ihrer Agenda bis zum Abdanken des Schahs nie ein Thema gewesen.[7] Hinzu kam, dass Khomeini sich strategisch geschickt über Frauen äußerte und die kämpfenden Frauen als substantiellen Teil der Revolution lobte.[8] Zwar disqualifizierte Khomeini das Konzept der Gleichstellung der Geschlechter auch immer wieder als westliche Verschwörung, aber vielen Frauen war bewusst, dass sie in einer «permanenten Revolution» auch im post-monarchistischen Iran für die Gleichstellung der Geschlechter würden weiterkämpfen müssen. Doch es war drittens schließlich den wenigsten während der Revolution bewusst, wie brutal die Islamisten nach dem Abdanken des Schahs vorgehen würden, um ihre Alleinherrschaft zu sichern: Sie vernichteten die einstigen Verbündeten durch tausendfache Verhaftungen, Folter, Vertreibungen und systematische Massenhinrichtungen.
Das ist die Dialektik der Revolution. Der Iran ist ein historisch wichtiges Beispiel, weil er aus feministischer sowie linker Perspektive ein Trauma darstellt. Eine Revolution lebt davon, nicht vollends planbar zu sein. Die Frage, was danach folgt, ist immer risikobehaftet. Dass es im Fall Iran 1979 der worst case wurde, berechtigt weder zu einem retrospektiven Defätismus, der den Schah reinwäscht und einer nie dagewesenen Vergangenheit nostalgisch hinterherweint. Noch berechtigt es zum Urteil jener «Linker», die die IRI damals wie heute wegen ihrer anti-westlichen Haltung als das «kleinere Übel» hinnehmen – und dabei dem Schicksal von iranischen Frauen, Kommunist*innen und Demokrat*innen gleichgültig gegenüberstehen.
Der größte Gegner der Islamischen Republik ist die Frau
Die Etablierung der IRI annullierte radikal alle Errungenschaften der Frauenbewegung und degradierte Frauen zu Bürgerinnen zweiter Klasse. Die frühe IRI verabschiedete zahlreiche Dekrete, die sämtliche Aspekte der Lebensrealität von Frauen unmittelbar betrafen und in weiten Teilen bis heute die Lebensrealität des Iran prägen:
Frauen benötigten für Arbeit, Reisen und Scheidung das Einverständnis ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder.
Frauen hatten faktisch keinen Anspruch auf das Sorgerecht.
Das Mindestalter für Ehen und die volle Strafmündigkeit wurde bei Mädchen auf neun Jahre heruntergesetzt.
Abtreibungen wurden verboten.
Geschlechtertrennung wurde in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens, zum Beispiel Personennahverkehr, Sport, Bildungsinstitutionen und Gesundheitsversorgung, eingeführt.
Darbietungen von Sängerinnen in Funk, Medien und auf Datenträgern wurden verboten.
Weibliche Armeemitglieder wurden zu Verwaltungskräften degradiert.
Eine Scheidung wurde ohne das Einverständnis des Ehemannes faktisch unmöglich.
Frauen wurden aus der Justiz und hohen öffentlichen Ämtern entfernt.
Strenge Kleidervorschriften, die u.a. die Zwangsverschleierung von Frauen umfassen, wurden eingeführt.[9]
Die meisten dieser Maßnahmen wurden im Zuge der sogenannten «Kulturellen Revolution» zwischen 1980-1983 verabschiedet. Diese waren darüber hinaus noch viel umfassender und diktierten in jeden gesellschaftlichen Bereich eine religiöse Linie. Doch keine andere Gruppe war so betroffen wie die Frauen. Sie waren das erste und das größte Opfer der Revolution, denn «[ü]ber die Frau kontrolliert das Regime die Gesellschaft».[10] Es schien so, als ob die neuen Machthaber jede einzelne Errungenschaft der Frauenbewegung der letzten 80 Jahre pedantisch wieder rückgängig zu machen versuchten.
Dabei ist das Frauenbild der IRI alles andere als konsistent. Khomeini bezieht sich auf zwei im schiitischen Islam wichtige mythologische Protagonistinnen: Zaineb – aktive Kämpferin an der Seite ihres Bruders Imam Hussein – und Fatimah – aufopferungsvolle Mutter des Imams, die sich vor allem um Reproduktionsaufgaben bemüht. Hierbei handelt es sich bereits um mitunter sehr widersprüchliche Rollen – vor allem, wenn man das Grundnarrativ der Mullahs hinzunimmt, nach dem Frauen als alleinige Verantwortliche für jeglichen moralischen Verfall und jedwede Korrumpierbarkeit der Männer gelten. Einerseits sollen sie – mal aktiver, mal passiver – liebevoll und hingebend die Männer unterstützen, doch sie sollen ja nicht sexuell verführen und fehlleiten. Diese Gleichzeitigkeit mündet in kollektiver Verunsicherung und hat einen institutionellen Ausdruck, den wieder eingeführten Hidschab. Die Autorin Ava Homa schreibt dazu: «Vom jungen Alter an verinnerlichen Mädchen das Konzept, dass ihr Körper etwas grundlegend Sündiges und Schändliches an sich hat [...] Der Schleier, den ich tragen musste, war ein Symbol der Entfremdung von anderen als auch von mir selbst.»
Khomeini verkündete bereits sehr früh die Wiedereinführung der Zwangsverschleierung. Er nutzte dabei die Dynamik, die der Schah selbst mit ausgelöst hatte. Durch dessen Schleier-Verbot wurde der Hidschab hochpolitisch; während der Revolution wurde er ein Widerstandssymbol, dessen sich viele säkulare und sozialistische Frauen bedienten, um ein Zeichen gegen die Monarchie zu setzen. Khomeini argumentierte fortan, jegliche Nicht-Verhüllung sei ein Relikt aus der Schah-Zeit und konterrevolutionär. Doch es dauerte, bis die Zwangsverschleierung durchgesetzt wurde, denn die Frauenbewegung bäumte sich ein letztes Mal auf. Am 8. März 1979 wurde eine mehrtägige Massendemonstration durchgeführt. Sie forderte u.a. die Aufrechterhaltung des Familienschutzgesetzes, Mitsprachrecht in der Regierung, gleichen Lohn für gleiche Arbeit sowie die Aufhebung von Kleidungsvorschriften.[11] Im Dezember desselben Jahres wurde außerdem eine große Konferenz für die Einheit von Frauen organisiert. Darüber hinaus gab es zahlreiche Aktionen des zivilen, alltäglichen Ungehorsams. Der Widerstand war so stark, dass Khomeini zunächst zurückrudern musste, letztlich allerdings die Zwangsverschleierung durchsetzte. Viele führende Aktivistinnen wurden festgenommen, und die gesamte iranische Frauenbewegung war am Tiefpunkt angekommen. Mit dem beginnenden Krieg gegen den Irak (1980-1988) und der nationalen Mobilmachung wurde jegliche soziale Bewegung gegen die Schreckensherrschaft der Mullahs endgültig im Keim erstickt.
«Verbrannte Generation» – Luft zum Atmen
In den späten 90er-Jahren öffnete sich ein kleines Fenster für eine Art Bürgerrechtsbewegung im Iran. Ihre Protagonist*innen entstammten aus der «verbrannte[n] Generation»[12], die in der ersten Revolutionsdekade geboren wurde und mit ca. 20 Millionen Iraner*innen ungefähr ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht. Diese Generation kennt nichts außer der Herrschaft der Mullahs und ist geprägt durch Krieg, Rezession und Inflation. Ein Teil der politischen Elite des Iran wollte die eigene Legitimität sichern und diese zukünftige Generation ansprechen. Sie lockte mit Reformen und Aufbruch und lockerte einige Regeln, die Gründung von NGOs sowie Zeitungen und das Abhalten von Versammlungen wurden vereinfacht. Nach der ersten Dekade des staatlichen Terrors und des Kriegs gab es erstmals ein wenig Luft zum Atmen. Frauen standen an der Spitze sowie an der Basis dieser Bewegung – ob als Studierende, Intellektuelle oder in der Rolle als Frauenrechtler*innen. Sie spielten dabei eine wichtige Rolle, denn während Studierende und Intellektuelle meist die urbane Mittelschicht ansprachen, wirkten Frauen in sämtliche Schichten und Minderheiten im Vielvölkerstaat Iran.
In dieser Zeit konnte diese Bewegung einige kleine Verbesserungen durchsetzen. [13] 1996 ließen sich zwölf Prozent der Frauen scheiden, 1988 waren es noch acht Prozent. Junge Iraner*innen forderten selbstbewusst Mitbestimmung gegenüber Ehemännern, Vätern und Brüdern. Frauen machten zwölf Prozent der Arbeitnehmer*innen aus und kamen dabei sehr nah an den vorrevolutionären Wert (13 Prozent). Trotz Bemühungen um strenge Quoten seitens konservativer Kräfte machten Frauen über 50 Prozent der Studierendenschaft aus. [14] Das Mindestalter für Ehen wurde von neun auf dreizehn Jahre erhöht, der Lohn von Frauen im öffentlichen Dienst wurde dem der Männer angeglichen. Die Anzahl von Frauenorganisationen verdreifachte sich zwischen 1997 und 2000, die Anzahl von Frauenzentren wuchs von 46 auf 206.[15] Frauen gelang zudem eine Rückkehr in politische Ämter; bei den Kommunalwahlen 1999 (den ersten seit 1980) wurden 297 Frauen in urbane und 484 in ländliche kommunale Ämter gewählt. Mit Masumeh Ebtekar (Vizepräsidentin für Frauen- und Familienangelegenheiten) schaffte es 1997 die erste Frau in ein Regierungskabinett der IRI. Die «Eine Millionen Unterschriften»-Kampagne gegen frauenverachtende Praktiken erlangte große internationale Aufmerksamkeit und war ein organisatorisches Sammelbecken für junge Frauen.
Dieses Fenster blieb allerdings nur kurz geöffnet, der iranische Reformismus entpuppte sich schnell als eine Illusion. Heute ist nur noch wenig übrig von der einst starken Frauenbewegung des Iran: Nur wenige, stark kontrollierte Kulturzentren für Frauen werden geduldet. Selbst die lange Zeit größte Publikation «Zanaan» (deutsch: Frauen), ein 1992 entstandenes Monatsmagazin von und für Frauen, hielt den staatlichen Gängelungen und der Zensur nicht stand und wurde nach über 20 Jahren und ständiger Repression gegenüber der feministischen Chefredakteurin Shahla Sherkat eingestellt.
Im Mittelpunkt: die Hidschab-Frage
Der Iran ist aktuell an einem Punkt des permanenten sozialen Brodelns. Frauen leisten dabei einen wichtigen Beitrag, nicht zuletzt mit ihren alltäglichen Aktionen gegen den Hidschab. Die dezentralen Kampagnen «My Stealthy Freedom» und «White Wednesday» bringen in den sozialen Medien täglich Videos von Frauen, die sich ohne Kopftuch und mit «schriller» Bekleidung durch den öffentlichen Raum bewegen – ein zutiefst «unislamisches Verhalten» und eine Straftat in der IRI. Bekanntheit erlangte die Kampagne im Dezember 2017, als erstmals Vida Modavahed – eine wahrscheinlich alleinstehende Mutter aus einfachen Verhältnissen – auf einen Stromkasten auf der symbolträchtigen Teheraner Revolutionsstraße stieg, ihr weißes Kopftuch abnahm und es an einer Stange schwenkte – ein ikonisches Foto ging um die Welt. Unter dem Hashtag #FrauenderRevolutionsstraße fand sie einige Nachahmer*innen, die bis heute zu Aktionen gegen den Hidschab animieren.
Die Bedeutung des Kopftuchs für die gesamte frauenverachtende Ideologie als Grundpfeiler der IRI kann gar nicht überschätzt werden: «Wenn die islamische Revolution kein anderes Ergebnis haben sollte als die Verschleierung der Frau, dann ist das per se genug für die Revolution», hatte Khomeini einst gesagt. [16] Die prominenteste iranische Feministin und Menschenrechtsaktivistin Masih Alinedschad zieht daher folgendes Fazit für die Bedeutung der Frauen in ihrem Kampf gegen den Hidschab: «[D]as wichtigste Instrument, um die Gesellschaft zu kontrollieren, ist die Frau zu kontrollieren. Der Hidschab-Zwang ist unsere Berliner Mauer, und wenn sie einstürzt, bricht ein ganzes System zusammen.»[17]
Hamid Mohseni ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er studierte Germanistik und Philosophie und ist freier Autor. Seit 2009 verfolgt er die Entwicklungen im Iran und beteiligt sich an linken Solidaritätsinitiativen, die die demokratischen und sozialen Proteste im Iran kritisch begleiten.
[1] Borbor. Dariush, «A Comparative Overview of the Iranian Constitutions of 1906-07 and 1979», Iran & the Caucasus, vol. 10, no. 2, S. 263–86.
[2] Ettehadieh, Mansoureh, «The Origins and Development of the Women's Movement in Iran, 1906-41». In: Beck, Lois & Nashat, Guity: Women in Iran from 1800 to the Islamic Republic. Urbana u.a.: University of Illinois Press, 2003.
[3] Chehabi, Houchang Esfandiar (2003): «The Banning of the Veil and Its Consequences». In: Cronin, Stephanie: The Making of Modern Iran: State and Society under Riza Shah, 1921–1941, London: Routledge, 2003.
[4] Afkhami, Mahnaz, «The Women's Organization of Iran: Evolutionary Politics and Revolutionary Change». In: Beck, Lois & Nashat, Guity: Women in Iran From 1800 to the Islamic Republic. Urbana u.a.: University of Illinois Press, 2003.
[5] Bagley, F.R.C., «The Iranian Family Protection Law of 1967: A Milestone in the Advance of Women's Rights». In: Bosworth, C.E.: Iran and Islam, Edinburgh: University Press, 1971.
[6] Aghajanian, Akbir, «Some Notes on Divorce in Iran». In: Journal of Marriage and the Family 48.
[7] Mohammadi, Majid, «Iranian Women and the Civil Rights Movement in Iran: Feminism Interacted». In: Journal of International Women‘s Studies Vol. 9 #1. S.3.
[8] Betteridge, Anne H.: To veil or not to veil. A matter of protest or policy. In: Nashat, Guity: Women and Revolution in Iran, Boulder, Colo.: Westview Press, 1983, S 116.
[9] Mohammadi, «Iranian women», S. 3.
[10] Atai, Golineh, Iran. Die Freiheit ist weiblich. Berlin: Rowohlt, 2021, S. 21.
[11] Sanasarian, Eliz, «An Analysis of Fida‘i and Mujahidin Positions on Women‘s rights». In: Nashat, Guity: Women and Revolution in Iran, Boulder, Colo.: Westview Press, 1983.
[12] Atai, Iran, S. 61.
[13] Mohammadi , «Iranian Women», S. 11.
[14] Ebd., S. 45.
[15] Nameye-Zan, No. 2-3., Teheran, 2003.
[16] Zitiert nach Atai, Iran, S. 21.
[17] Ebd, S. 276.
Zweitveröffentlichung (Original) mit freundlicher Genehmigung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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