1979 wurde die Islamische Republik Iran gegründet. Es folgten ein Krieg, Wiederaufbau, Reformbemühungen und deren Scheitern. Heute lahmt Irans Wirtschaft, internationale Sanktionen sind wieder in Kraft. Der Iran-Experte Alessandro Topa blickt auf 40 Jahre iranische Geschichte.
"Die Essenz der iranischen Geschichte", so formulierte der frühere Präsident Mohammed Chatami einmal vor Studierenden, "ist der Kampf für die Demokratie.“[1] Wurden die Erfolge dieses Kampfes in Vergangenheit immer wieder durch interne Systemkräfte zunichte gemacht, so hat der unilaterale Austritt der USA aus dem internationalen Atomabkommen vorerst die historische Möglichkeit zerschlagen, eine schrittweise, durch die Intensivierung von Wirtschaftsbeziehungen getragene Öffnung der Islamischen Republik in Gang zu setzen und deren geostrategische Annäherung an Europa vorzubereiten.
Revolution und Krieg (1979-1989): die Gründungsjahre unter Ajatollah Chomeini
Als sich die Iranerinnen und Iraner im März 1979 zu 98 Prozent für eine islamische Republik aussprachen, wussten nur wenige, was dies konkret bedeuten würde. Das Volk folgte seinem Führer, dem 77-jährigen Ajatollah Ruhollah Chomeini, der es soeben von der Diktatur des Schahs und seines Geheimdienstes erlöst hatte. "Ich stimme Ja für die Islamische Republik", verkündete der greise Kleriker nun von Plakaten herab. Seinem Beispiel zu folgen, war auch für die damals 60 Prozent Analphabeten unter den 21 Millionen Wahlberechtigten nicht schwer: Mit dem grünen Abschnitt des Wahlzettels stimmte man für den Islam; mit dem roten gegen Gott.
Für Beobachter zeichnete sich indessen ab, dass mit dem Referendum eine Auseinandersetzung aufbrach, bei der sich die in ihrer Stoßrichtung gegen den Schah vereinten islamistischen, liberalen und marxistischen Kräfte nun gegeneinander kehrten. Insbesondere der von Chomeini zum Ministerpräsidenten berufene Mehdi Bazargan, der eine "Demokratisch-Islamische Republik" forderte, musste im Oktober 1979 die Machtlosigkeit seiner Übergangsregierung eingestehen: "Das Sagen hat Chomeini, samt seines Revolutionsrats, den Komitees und seiner Beziehung zu den Massen." [2] Das zeigte sich bereits im Sommer, als Chomeini Irans verfassungsgebende Versammlung durch den Expertenrat ersetzte, der von Geistlichen dominiert wurde.
Als Studierende am 4. November 1979 die US-Botschaft in Teheran besetzten, trat Bazargan zurück. Chomeini aber nutzte die antiamerikanische Agitation der Geiselkrise, um den Einfluss der Demokraten auf die Ausarbeitung der Verfassung weiter zu beschneiden. So konnte er sich einen Monat später 99 Prozent Zustimmung für eine Verfassung sichern, die ihm kraft der Doktrin der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" (velayat-e faqih) die überragende Machtstellung im Staat sicherte.
Die ersten Jahre der Islamischen Republik waren von Gewaltexzessen geprägt, mit denen nach den Liberalen auch militante islamo-marxistische Oppositionsgruppen ausgeschaltet wurden. Bis 1988 wurden tausende Oppositionelle getötet. [3] Im Zuge einer rigorosen Kulturrevolution wurde zugleich die Islamisierung des Justiz- und Bildungswesens sowie der Wirtschaft und Medien betrieben.
Für die Bevölkerung vollzogen sich diese Entwicklungen im historischen Rahmen der so genannten "heiligen Verteidigung" gegen den Irak, dessen Panzer am 22. September 1980 auf breiter Front in iranisches Territorium eindrangen. Ein Krieg begann, der Hunderttausenden das Leben kosten sollte, zumal Iran ab 1982 selbst in die Offensive ging. Als Mythos opferbereiten Standhaltens gegen die Aggressoren aus dem Nachbarland und im solidarischen Glauben an die Revolution prägt die Verklärung des Krieges bis heute Gesellschaftsmodell und Selbstverständnis der Islamischen Republik – und ist Bestandteil einer iranisch-schiitischen Heilsgeschichte.
Wiederaufbau und Entideologisierung (1989-1997): der Pragmatismus unter Haschemi Rafsandschani
Mit dem Waffenstillstand zwischen Iran und Irak im Juli 1988 sowie dem Tod Chomeinis im Juni 1989 begann eine Phase entideologisierter Auseinandersetzung um drängende politische und sozioökonomische Probleme.
Das Problem der Etablierung einer neuen Machtordnung nach Chomeini wurde durch eine Verfassungsreform gelöst, die das Prinzip der velayat-e faqih modifizierte: Vom Revolutionsführer wurde nicht mehr gefordert, höchste religiöse und politische Autorität in sich zu vereinen. Stattdessen ermöglichte die Verfassung nun, mangelnde theologische Qualifikation durch politische Expertise aufzuwiegen. So ernannte der Expertenrat mit Seyyed Ali Chamenei einen "bloßen" hojjatoleslam zum Führer, der zuvor als Staatspräsident gedient hatte. Wenig später wurde Chamenei in den theologischen Rang eines Ajatollah hochgestuft. Mit Haschemi Rafsandschani wurde ein weiterer Geistlicher mittleren Ranges zum Staatspräsidenten gewählt, der ebenfalls zum engsten Beraterkreis Chomeinis gehört hatte.
Im Mittelpunkt der Politik Rafsandschanis standen der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Industrie und Infrastruktur sowie die Behebung von Ineffizienzen durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen. Der Weg der Verschuldung wurde eingeschlagen, um das Land mit Importen zu versorgen. Mit ihren Modernisierungsprojekten knüpfte die Regierung Rafsandschani teilweise an Pläne des Schahs an und bemühte sich um exilierte Experten, deren Rückkehr die Defizite in Management, Technologie und Bildungswesen zu überwinden helfen sollte.
Zugleich sah sich Rafsandschani zunehmend links-islamistischer Kritik ausgesetzt, die mangelnde Treue gegenüber den egalitären Idealen der Revolution anmahnte und die Öffnung der Wirtschaft für ausländische Investoren als Verrat denunzierte. Insbesondere die Führer religiöser Stiftungen (bonyadha), deren Holdings die staatseigenen Produktionsmittel verwalten, sperrten sich gegen den Liberalismus Rafsandschanis, der in seiner zweiten Amtsperiode kaum auf die Unterstützung des Parlaments zählen konnte, nachdem die Bevölkerung das Vertrauen in ihn verloren hatte. Die Wirtschaftsliberalisierung misslang, die Korruption grassierte.
Dialog und demokratische Hoffnungen (1997-2005): der Reformismus unter Mohammed Chatami
Die pragmatische Politik Rafsandschanis, insbesondere die Stärkung der Privatwirtschaft, bessere Bildung sowie die Lockerung der Zensur haben wesentlich den Sieg Mohammed Chatamis vorbereitet, der im Mai 1997 mit 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde. Der linksliberale Geistliche begriff öffentlichen Diskurs und politische Partizipation als Schlüssel zur Liberalisierung der Islamischen Republik im Rahmen ihrer Verfassung. Demgemäß trat er mit der Agenda an, die Zivilgesellschaft zu stärken und sich für Frauenrechte und Pressefreiheit einzusetzen.
Während Chatamis Außenpolitik eines "Dialogs der Zivilisationen" die Beziehungen zu arabischen und europäischen Ländern verbesserte, konnte er innenpolitisch – trotz zunächst ungebrochener Zustimmung bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 2000 sowie 2001 – kaum seine Versprechen halten: Zwar blühten Kultur und politischer Diskurs auf gleichzeitig begannen sich aber die konservativen Kräfte um Revolutionsführer Chamenei zu organisieren und konterten durch die Verhaftung von Reformisten sowie das Verbot vieler Zeitungen. Jedes dritte vom Parlament verabschiedete Gesetz scheiterte am Veto des Wächterrats.
Als im Juli 1999 die Ordnungskräfte brutal gegen Studierende vorgingen, die für die Pressefreiheit demonstrierten, kam es landesweit zu Ausschreitungen, bei denen mehrere Menschen starben. Chatami kommentierte die Ereignisse zunächst nicht; stellte sich dann aber – nach massivem Druck aus dem Militär und dem Lager des Revolutionsführers – ostentativ hinter Chamenei.
Mit seiner Abkehr von den Studierenden, die diese nur als Verrat ansehen konnten, versäumte Chatami aus Sicht säkularer Reformkräfte und vieler junger Iranerinnen und Iraner die historische Chance, unterstützt vom Volk die direkte Konfrontation mit dem Revolutionsführer zu wagen. Im politischen Handeln des geistlichen Reformers wurden somit die systemimmanenten Grenzen der demokratischen Potenziale der Islamischen Republik offenbar. Insofern stellt der Sommer 1999 eine entscheidende Zäsur in der jüngsten iranischen Geschichte dar. Entsprechend desillusioniert sind viele frühere Anhänger Chatamis bis heute.
Mit der Verortung Irans auf einer "Achse des Bösen", die US-Präsident George W. Bush im Januar 2002 vornahm, geriet der Reformismus im Zuge des von den USA angeführten "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan und Irak zusätzlich unter Druck. Dabei war die vorhergehende iranische Kooperation mit den US-Streitkräften im Kampf gegen Taliban und Al-Qaida zunächst als außenpolitischer Erfolg des Reformismus gefeiert worden.
Bei den Parlamentswahlen 2004 wurden 3.600 Reformisten nicht zugelassen, so dass – auch aufgrund eines Wahlboykotts seitens der Reformisten – die Konservativen die Mehrheit im Parlament wiedererlangten.
Aggressive Außenpolitik und linksislamistischer Populismus (2005-2013): der Neokonservatismus unter Mahmoud Ahmadinedschad
Das realpolitische Scheitern des Reformismus verfestigte bei Beobachtern die Einsicht, dass die Islamische Republik im Rahmen der gegebenen Verfassung nicht demokratisierbar sei. Darüber hinaus stieß der Reformismus indirekt auch eine Neuprofilierung des Konservatismus an und setzte die Verlagerung der Machtbasis des Revolutionsführers auf das Imperium der Revolutionsgarden in Gang. Diese waren 1979 als Gegenpol zur regulären Armee mit ihrer monarchistischen Tradition gegründet worden.
Beide Entwicklungen kulminierten in der Präsidentschaftswahl 2005, bei der es keinem der Reformer gelang, alte Wählerpotenziale zu aktivieren. Vielmehr triumphierte ein fundamentalistischer Politiker neuen Typs über Rafsandschani, den Kandidaten des klerikalen Establishments: Mahmoud Ahmadinedschad wurde der erste Regierungschef Irans seit 1981, der nicht dem Klerus angehörte.
Ahmadinedschad war Verkehrsingenieur und Veteran des Iran-Irak-Krieges. Er entstammte dem Milieu der linientreuen Basidsch-Milizen – einer paramilitärischen Freiwilligenmiliz, die die Revolutionsgarden bei Bedarf als Hilfstruppe mobilisiert. Auch andere Neokonservative bahnten sich in Opposition zum Reformismus ihren Weg in kommunale Verwaltungen, institutionelle Führungspositionen, das Parlament und schließlich auch in die Regierung.
Das offensive Auftreten Ahmadinedschads, seine Leugnung des Holocaust und des Existenzrechts Israels sowie seine Unnachgiebigkeit im Atomkonflikt isolierten Iran weiter und hatten Sanktionen des UN-Sicherheitsrats zur Folge. Innenpolitisch wurde seine auf dem Kernbegriff sozialer Gerechtigkeit aufbauende linksislamistische Programmatik immer wieder als populistische Klientelpolitik und als illegale Devisenverschwendung kritisiert.
Im Juni 2009 wurde Ahmadinedschad unerwartet deutlich (mit über 62 Prozent) als Präsident wiedergewählt. Dem "tiefen Staat" um Revolutionsführer Chamenei wurde in der Folge vorgeworfen, die Wahlergebnisse gefälscht zu haben, was zur bislang schwersten Legitimitätskrise des politischen Systems der Islamischen Republik führte.
Es kam zu Massenkundgebungen der sich rasch formierenden neo-reformistischen „Grünen Bewegung“, bei denen die urbanen Mittelschichten gegen das protestierten, was ihnen – vermutlich zu Recht – als ein eklatanter Wahlbetrug vorkommen musste. Doch Revolutionsführer Chamenei und die Sicherheitskräfte reagierten: Es gab dutzende Tote, hunderte Verletzte und eine Verhaftungswelle, mit der systematisch die Stimme tausender Oppositioneller zum Verstummen gebracht wurde.[4] Zahlreiche bekannte Oppositionelle wurden in Schauprozessen wegen der Unterstützung einer angeblich aus dem Ausland gesteuerten Revolution angeklagt und verurteilt. Die unterlegenen reformorientierten Kandidaten Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi, die Verstöße gegen das Wahlrecht dokumentiert und auf Neuwahlen gedrängt hatten, befinden sich noch heute unter Hausarrest.
Hegemoniale Vorwärtsverteidigung und Scheitern des Atomabkommens (2013-2019): Der Neopragmatismus unter Hassan Rouhani
Die politische Geschichte der Islamischen Republik im vergangenen Jahrzehnt ist wesentlich durch die gezielte – militärische, religiös-politische, wirtschaftliche, kulturelle und akademische – Ausweitung ihres Einflussbereichs in den von Bürgerkriegen zerrütteten Staaten der Region bestimmt. Diese "Vorwärtsverteidigung" geschieht kurz- und mittelfristig mit dem Ziel, konventionelle militärische Schwäche durch strategische Tiefe und ein Netzwerk schiitischer Milizen kompensieren zu können. Langfristig geht es um das so ambitiöse wie prekäre Ziel, die akkumulierte hegemoniale Macht im Aufbau einer "Iranosphäre" konsolidieren zu können. Die seit dem Spätsommer 2019 mit äußerster Gewalt in Libanon und Irak niedergehaltenen Jugendproteste, die sich gegen die Korruption der lokalen Klienten und den panschiitischen Expansionismus Teherans wenden, zeigen, wie tief dieser nunmehr die alltägliche Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger durchdringt. Der Atomkonflikt, der in den vergangenen Jahren im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stand und im Folgenden auch als narrativer Leitfaden hervorgehoben wird, ist in dieses Gesamtbild einzuordnen und wohl auch hinsichtlich seiner historischen Bedeutung zu relativieren.
Nichtsdestotrotz läutete die Wahl Hassan Rouhanis zum siebten Präsidenten der Islamischen Republik im Juni 2013 zweifellos einen radikalen außenpolitisch-diplomatischen Kurswechsel ein. Dieser war freilich wesentlich durch die im Gestus neuartige Iranpolitik-auf-Augenhöhe des US-Präsidenten Barack Obama (2009-2017) begünstigt worden. Auf die ideologisch verbrämte Haltung maximaler Unnachgiebigkeit Ahmadinedschads folgte der lösungsorientierte Pragmatismus des liberalen Rechtsgelehrten und Sicherheitsexperten Rouhani sowie seines weltgewandten und dem Projekt des Atomabkommens zutiefst verpflichteten Außenministers Mohammed Zarif.
Die Gespräche zwischen Iran und den fünf permanenten Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats (China, Frankreich, Russland, USA, Vereinigtes Königreich) inklusive Deutschland und der Europäischen Union zeigten bald Fortschritte. Sie führten nach einer Reihe von Verhandlungen zu dem in Wien vereinbarten Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), auch als "internationales Atomabkommen" bekannt. Mit diesem Abkommen vom Juli 2015 verpflichtete sich Iran – im Gegenzug zur schrittweisen Aufhebung von Sanktionen – für 15 Jahre zur Suspendierung und regelmäßigen Überwachung der potentiell militärisch nutzbaren Bestandteile seines Atomprogramms.
Die Euphorie in Iran und Europa ob der sich eröffnenden Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit im Zeichen der technologischen Modernisierung Irans, wich nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November 2017 schon bald der Sorge, die neue US-Regierung könnte aus dem Abkommen austreten. Man befürchtete, die USA beabsichtigten, Iran durch eine Verschärfung der Sanktionen an den Verhandlungstisch zurückzuzwingen, um insbesondere das iranische Raketenprogramm in ein – aus amerikanischer Sicht – verbessertes Abkommen einzubeziehen.
Der offiziellen Erklärung des US-Präsidenten vom 8. Mai 2018, aus dem Abkommen auszutreten, folgte im November 2018 die Wiedereinsetzung und Verschärfung von Sanktionen. Ziel ist es seither, die Islamische Republik weiter wirtschaftlich zu isolieren und durch den vollständigen Stopp von Erdölexporten an den Rand eines finanziellen Kollapses zu bringen und dergestalt auch das Entstehen von Protesten im Landesinneren zu begünstigen. In Reaktion auf steigende Lebensmittelpreise, ausbleibende Lohnzahlungen und die kostspielige Unterstützung schiitischer Milizen im Ausland kam es zum Jahreswechsel 2017/18 zu zum Teil überaus gewaltsamen landesweiten Protesten. Ebenso im November 2019: Die zunächst wegen unangekündigter Benzinpreiserhöhungen aufkommenden friedlichen Demonstrationen entwickelten sich binnen weniger Tage zu landesweiten Protesten gegen das System der Islamischen Republik und dessen Führung. Das martialische Eingreifen der Sicherheitskräfte führte zum Tod Hunderter Demonstrierender. [5]
Nach der Eskalation des Konflikts mit der USA um die Jahreswende 2019/2020 scheint die Islamische Republik zu Beginn des neuen Jahrzehnts an einem epochalen Scheideweg zu stehen. Die Entwicklungen, welche durch die Ermordung des Kommandanten der Quds-Brigaden Qassem Soleimani durch einen US-Drohnenangriff in Irak am 3. Januar 2020 in Gang gesetzt wurden, können aufgrund ihrer innen- und weltpolitischen Vielschichtigkeit derzeit kaum übersehen werden. Auf die Tötung Soleimanis reagierte Iran mit dem Beschuss von Militärbasen in Irak, die von US-Streitkräften genutzt werden. Das Ausmaß der Angriffe machte deutlich, dass Teheran einen Krieg vermeiden will. Zugleich nahmen Millionen von Iranerinnen und Iranern an mehrtägigen Trauerprozessionen für Soleimani teil; die Proteste vom November schienen fürs Erste vergessen. Doch am 11. Januar erfolgte das offizielle Schuldeingeständnis der Revolutionsgarden, am 8. Januar in der Nähe Teherans eine ukrainische Passagiermaschine mit 176 Menschen (zumeist iranischer Nationalität oder Abstammung) an Bord versehentlich abgeschossen zu haben. Erneut gab es Proteste gegen das Regime. Namhafte Gestalten des öffentlichen Lebens veröffentlichten Botschaften, in denen sie sich vom System der Islamischen Republik distanzierten.
Angesichts der hoffnungslosen wirtschaftlichen Lage und der Strategie der Trump-Regierung, die Islamische Republik einem permanenten "Stresstest" zu unterziehen, ist davon auszugehen, dass die Islamische Republik sowohl innen- als auch außenpolitische Kurskorrekturen in Richtung eines konstruktiven Pragmatismus vornehmen wird. Diese Kurskorrekturen könnten den bislang geltenden Grundkonsens aller politischen Lager der Islamischen Republik sprengen, wenn ein Ausweg aus der Isolation und die vollständige Verausgabung des Landes im Konflikt mit den USA vermieden werden soll.
Zu diesem Konsens gehörte bislang erstens die Überzeugung, dass die Iran-Politik der USA auf einen Regimewechsel in Teheran hinarbeitet. Zweitens gehört zu diesem Konsens eine militärische Verteidigungsdoktrin, gemäß der die massive Aufrüstung der Golfstaaten und das militärische Drohpotenzial der neuen Achse Washington-Tel-Aviv-Riad einzig durch eine Ausweitung der hegemonialen "Vorwärtsverteidigung" neutralisiert werden kann, um so die Kosten eines Angriffs auf das eigene Territorium stets weiter in die Höhe treiben zu können. Drittens gehört zu diesem Konsens die Überzeugung, dass sich die iranische Gesellschaft desto mehr mit dem Regime solidarisieren wird, je weiter der Druck aus dem Ausland steigt.
Von diesen Prämissen scheint in Teheran nur noch die erste mit Sicherheit angenommen werden zu können.
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Fußnoten
Zit. n.: Abrahamian (2008), S. 186
Ebd., S. 163
Vgl. "Amnesty beklagt Zerstörung von Massengräbern in Iran", ZEIT Online, 30. April 2018. Online unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-04/gefaengnismassaker-iran-amnesty-international-cover-up (Stand: 2401.2020)
Vgl. die Bestandsaufnahme der Ende Juli 2009 vorliegenden Informationen im "NewsBlog Iran" des Guardian. Online unter: https://www.theguardian.com/world/blog/2009/jul/29/iran-election-protest-dead-missing (Stand: 24.01.2020)
Vgl. Fassihi, F. und Specia, M.: Iran Used Firearms in Deadly Crackdown on Protesters, Officials Admit, in: New York Times, 05.12.2019. Online unter. https://www.nytimes.com/2019/12/03/world/middleeast/iran-protest-crackdown.html und Fassihi, F. und Gladstone, R.: With Brutal Crackdown, Iran Is Convulsed by Worst Unrest in 40 Years, in: New York Times, 01.12.2019. Online unter: https://www.nytimes.com/2019/12/01/world/middleeast/iran-protests-deaths.html (Stand: 24.01.2020)
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