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Ist Iran auf dem sicheren Weg in einen Bürgerkrieg?



Wo stehen die Sicherheitskräfte, was denken die Revolutionsgarden, wie will Ali Khamenei den kommenden Unruhen im Iran Herr werden? Namhafte Exponenten der einstigen Reformbewegung sprechen bereits von Revolution, Selbstzerstörung und Bürgerkrieg.

Dient Sprache der Verständigung? Nicht immer. Codesprachen sind bekanntlich dafür da, dass nicht alle verstehen, was gesagt wird. Nicht nur Geheimdienste haben ihre Geheimsprachen, auch in Despotien ist es oft nötig, die Kunst des Entzifferns zu beherrschen, um den Despoten richtig deuten zu können. Will man ein System verstehen, muss man seine Chiffre entschlüsseln können. Jeder Alleinherrscher hat oft ihm eigene Schlüsselworte.


Irans Staatsoberhaupt Ali Khamenei hält sich für einen Mann der Sprache und Dichtung, in seinen jungen Jahren, vor der Revolution, verkehrte er in Dichter- und Literatenzirkeln. Um ihn aber heute richtig verstehen zu können, bedarf es einer besonderen Deutungskunst. Welchen Code er in seinen Ansprachen versteckt, was er damit wem sagen will, hängt davon ab, wen er gerade zu bekämpfen gedenkt. Auch die Anlässe seiner Audienzen spielen dabei eine Rolle. Der Schiismus mit seinen zwölf Imamen, von denen elf von ihren Gegnern ermordet worden sein sollen, bietet genug Anlässe für prägende Predigen. Der 12. Imam lebt in großer Verborgenheit, werde aber am Ende der Zeit wiederkommen, glauben die Schiiten.


Khamenei ist ein versierter Rhetoriker, seine Herrschaft verdankt er hauptsächlich seiner Redekunst. Deshalb machte ihn Republikgründer Khomeini in den ersten Tagen seiner Machtübernahme zum Freitagsprediger der Hauptstadt Teheran. Seit 34 Jahren ist Khamenei nun selbst Revolutionsführer, und im Gegensatz zu seinem Vorgänger bestimmt er die gesamte Politik des Landes, in allen Einzelheiten. In all diesen langen Jahren seiner Herrschaft hat er aber nie ein Interview gegeben oder sich einer Diskussion gestellt. Er ist ein Prediger geblieben. Und wie es bei einer Predigt üblich ist, beginnen seine Ansprachen immer in einer religiös-abstrakten Sphäre.


Für besondere Verkündigungen eignet sich alljährlich bestens der 3. Juni. Das ist der Jahrestag von Chomeinis Tod, ein Feiertag beziehungsweise heiliger Tag, wie es im Iran offiziell heißt – ein Tag, an dem zugleich Khameneis Herrschaft begann.


Die unvermeidliche Revolution


In diesem Jahr war der 3. Juni aber ein besonderer Gedenktag. Es stellte sich die Frage, wohin Khameneis Land treibt – in einem Meer von Problemen, vor einem großen Berg wirtschaftlicher Krisen und mit einer zutiefst unzufriedenen Bevölkerung; mehr als 80 Prozent, sagen offiziöse Quellen. Finde sich nicht schnell ein Ausweg aus der Sackgasse, sei eine baldige Revolution unvermeidlich, sagte am vergangenen Dienstag der Soziologieprofessor Gholamreza Zarifian. Er kennt das System sehr gut von innen, denn er war Hochschulminister und lehrt derzeit an der Universität Teheran islamische Geschichte.


Dass der Fortbestand seiner „Republik“ ungewiss ist, sollte es so bleiben, wie es ist, ahnt mit Sicherheit auch Khamenei selbst.


Die Widerstandszellen im Inneren


Die längste Unruhe seiner Herrschaft hat er gerade mit beispielloser Brutalität einstweilen beendet. Momentan herrscht eine Ruhe vor Sturm. Welche Zukunft sieht er vor sich, was erwartet er, wie will er die gefährlichen Klippen umschiffen, was wird er sagen? Das fragten sich viele Beobachter, die an diesem 3. Juni auf einen zukunftsweisende, programmatische Predigt warteten. Und Khamenei hat gepredigt.


An diesem Tag war das Schlüsselwort seiner Rede هسته های مقاومت, „Widerstandszellen“. Das ist zwar ein konstanter, seit Jahren immer wiederkehrender Begriff in seinen Reden, doch das Wort war bis jetzt ausschließlich den Bürgerkriegen in den Nachbarländern vorbehalten, wo Khameneis treue Verbündete für die „strategische Tiefe“ seines Regimes sorgen.


Doch diesmal sprach er von Widerstandszellen im Innern des Landes, „Zellen, die sich in jeder Moschee, jeder Hochschule und jedem Stadtteil auch künftig für das Ende der vom Feind geschürten Krawallen und Tumulten opfern werden“. Das ist keine Literatur. Das ist eine strategische Sicherheitsbestimmung, eine quasi militärische Ankündigung, mit wem es die Protestierenden künftig zu tun haben werden. Nicht Polizei oder Armee, nicht einmal die normalen Revolutionsgarden werden es richten, es werden die Basijis sein, jene „freiwilligen“ paramilitärischen Verbände, die jederzeit mobilisierbar sind, deren Angehörige an normalen Tagen aber anderen Beschäftigungen nachgehen.


Kurz vor dieser Rede Khameneis hatte das Parlament beschlossen, dass Angehörige aller Ränge der Basijis künftig weder Gas-, Strom oder Wasserrechnungen noch andere staatliche oder kommunale Gebühren zahlen müssen.


Kein Verlass mehr auf die Revolutionsgarden?



Sie sind auf Motorrädern unterwegs, brutal und immer einsatzbereit: Die Basij-Milizin der Islamischen Republik

Diese Rede war auch eine Klarstellung nach Innen. Sie war an jene Einheiten der Sicherheitskräfte gerichtet, die in den Monaten der Unruhen ihren Zweifel an brutalen Methoden geäußert hatten. Am deutlichsten bekam Khamenei dieses Zögern und Zaudern am 3. Januar zu hören, dem Jahrestag der Ermordung von Qassem Soleimani. Soleimani, damals Kommandant der Quds-Brigaden, der Auslandseinheit der Revolutionsgarde, wurde auf Befehl des damaligen US-Präsidenten Donald Trump am Bagdader Flughafen getötet. Er gilt als ewiger, unersetzbarer Held der Islamischen Republik.


An diesem 3. Januar waren 60 hochrangige Kommandeure der Revolutionsgarden bei Khamenei. 44 Seiten lang ist das Protokoll dieser Sitzung, die auf dem Höhepunkt der Unruhen nach dem Tod der kurdischen Studentin Mahsa (Jina) Amini stattfand. Es ist ein aufregendes Dokument über den Zustand, die Stimmung und die innere Zerrissenheit der Revolutionsgarde. Die Garden galten bis dahin als Khameneis zuverlässigste und ergebenste Truppe. Richtig und glaubwürdig wurde dieses Protokoll, das ein Telegramkanal namens „Zeit der Freiheit“ veröffentlichte, niemals dementiert.


Aufschlussreiches Dokument und lauwarmes Dementi


Fast sechs Wochen lang war es im Umlauf. Erst nachdem Hunderte Webseiten, unzählige persische und arabische TV-Sendungen und eine große Schar von Experten sich über dieses einmalige Dokument geäußert hatten, erschien schließlich ein ironischer Beitrag eines Journalisten, der sich dem „Haus des Führers“ verbunden fühlt. Mehr nicht. Sonst herrschte Schweigen. Sollte dies das offizielle Dementi sein?


Wenn diese Sitzung so abgelaufen sein sollte, wie das Dokument es beschreibt – und es gibt bis zur Stunde kaum ein seriöses und verlässliches Argument dafür, nicht daran zu glauben -, dann stellen sich etliche Fragen, die niemand beantworten kann. Über Gegenwart und Zukunft des gesamten Systems ebenso wie über Vermutungen und Prognosen der Experten dazu, welche Rolle die Garden nach Khameneis Tod spielen werden. Über vieles müsste neu reflektiert werden.


Bürgerkrieg und Selbstzerstörung


Das Regime treibe das Land in einen Bürgerkrieg, schrieb an diesem Mittwoch Zahra Rahnaward, Ehefrau des einstigen Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Mussavi, aus ihrem Hausarrest. Seit 2009, seit der blutigen Niederschlagung der so genannten Grünen Bewegung, dürfen die ehemalige Professorin und ihr Ehemann ihr Haus nicht verlassen und nur sporadisch kurze Besuche ihrer Tochter empfangen.


Am selben Tag sagte Ex-Präsident Mohammad Chatami, das System befinde sich auf dem sicheren Weg der Selbstzerstörung. Das sagt jemand, der allen Turbulenzen der letzten sieben Monate zum Trotz stets und emsig bemüht war, die Gemüter zu beruhigen.

Wenn diese beiden Exponenten der Reformbewegung von Bürgerkrieg und Selbstzerstörung sprechen, dann zeigt das, dass auch sie mit ihrem Latein am Ende sind. Und sie meinen im Grunde jenen kommenden Zustand, dem Ali Khamenei mit dem Einsatz der Basiji, der Paramilitärs, begegnen will.


Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von IranJournal, Text von Ali Sadrzadeh

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