Weil die Arbeit das Überleben nicht mehr sichert, wehren sich die Menschen trotz massiver Repressionen. Von Hamid Mohseni
Der Iran erlebt die größte Streikwelle seit der Revolution gegen den Shah 1979. Es geht dabei ums nackte Überleben und um Solidarität. Damit bleibt die Revolution im Iran auch in einer neuen Phase lebendig und stellt für die Machthabenden eine existentielle Gefahr dar.
Um die Lage der kämpfenden Arbeiter*innen in der Islamischen Republik Iran (IRI) einordnen und bewerten zu können, ist ein Blick auf ihre Rechte und Möglichkeiten und sowie auf die ökonomische Situation im Land wichtig.
Illegale Streiks und Arbeitskämpfe als Überlebensnotwendigkeit
Hamid Mohseni ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Seit 2009 verfolgt er die Entwicklungen im Iran und beteiligt sich an linken Solidaritätsinitiativen, die die demokratischen und sozialen Proteste dort kritisch begleiten.
Die Mullahs und die Revolutionsgarden führen ein autoritäres Regime, in denen sämtliche politische Grundrechte und Freiheiten de facto ausgehebelt sind. Auch die Organisations- und Versammlungsfreiheit ist davon betroffen, genauso wie ein Recht auf Streiks, welches im Arbeitsrecht der IRI nicht festgeschrieben ist. Zwar existieren einige offizielle Gewerkschaften[1]. Aber unabhängige Gewerkschaften und damit Streiks von Arbeiter*innen, die sich aus freien Stücken zusammentun und organisieren, finden sich in der IRI offiziell nicht, sie gelten pauschal als «Bedrohung für die staatliche Sicherheit». Wenn also im Folgenden von unabhängigen Gewerkschaften die Rede ist, handelt es sich um illegale, aber aufgrund ihrer Relevanz geduldete Gewerkschaften. Diese werden massiv vom Staat bekämpft, ihre Aktivist*innen füllen die Gefängnisse im ganzen Land. Nach jeder Aktion und Streik werden hundert- bis tausendfach weitere Aktive und Sympathisant*innen festgenommen. Und dennoch finden quasi täglich Proteste und Aktionen statt. Alleine für das Jahr 2022 zählte die Menschenrechtsorganisation «Human Rights Acitivists News Agency» mindestens 1289 Protestaktionen von Arbeiter*innen und 344 Streiks – die tatsächliche Zahl dürfte höher sein, schließlich werden viele weitere Aktionen schlecht bis gar nicht dokumentiert.
Was treibt die Menschen angesichts dieser schwierigen Bedingungen an, immer wieder auf die Straße zu gehen? Es ist schlichtweg ein Kampf um Leben und Tod. Die Lage der iranischen Wirtschaft hat für die meisten Menschen dramatische Auswirkungen. Die Inflation beträgt dieses Jahr vorsichtig geschätzt 50 Prozent. 2017 betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen einer iranischen Familie 10.000 USD, dieses Jahr ist dieser Durchschnitt halbiert. Zum Vergleich: in den USA verdiente dies ein Durchschnittshaushalt im Monat. Staatlichen Angaben zufolge leben ein Drittel der Iraner*innen unter der Armutsgrenze von 500 USD, die tatsächliche Zahl wird auf ca. 60 bis 80 Prozent geschätzt. Durch alle Sektoren hindurch besteht zudem großer Zahlungsrückstand bei den Gehältern. Armut ist kein peripheres Phänomen in der iranischen Gesellschaft, sondern Normalzustand. Die Arbeiter*innen im Iran gehen also in erster Linie auf die Straße, weil sie Geld brauchen, um zu überleben. Im Rahmen ihrer Versammlungen oder auf den zahlreichen Telegram-Kanälen erzählen sie herzzerreißende Geschichten, wie gleich mehrere Familien sich eine viel zu kleine Mietwohnung teilen müssen, um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben oder wie Grundnahrungsmittel zu Luxusgütern werden, die ihre Kinder seit Monaten und Jahren nicht mehr essen konnten.
Dabei ist der Iran kein armes Land, im Gegenteil. Er verfügt über die vierthöchsten Öl- und die zweitmeisten Gasvorkommen weltweit. Mit großem Abstand ist das auch die Schlüsselindustrie des Landes, und trotz westlicher Sanktionen findet iranisches Öl regelmäßig kaufkräftige Abnehmer. Das Geld kommt allerdings allein den Machthabenden, das heißt den Mullahs und den Revolutionsgarden und deren Apparaten zu Gute. In nahezu allen Sektoren verfügen sie über mächtige Konglomerate an Unternehmen, Finanzinstituten sowie Infrastrukturen, neben der Öl-, Gas- und Petrochemieindustrie auch in der Telekommunikation und im Bau- oder Logistikbereich.
Die sogenannten Bonyads, NGO-artige Stiftungen mit Charity-Anstrich, machen ca. 20 Prozent des iranischen Bruttoinlandproduktes aus und wachsen weiter. Diese von Vetternwirtschaft und Korruption geprägte Elitestruktur aus Mullahs und Revolutionsgarden bindet sämtliche Macht über Politik, Ökonomie, Militär zunehmend an sich selbst und vergrößert die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Während Millionen iranische Arbeiter*innen nicht wissen, ob und wie sie sich im nächsten Monat ernähren können, lebt die IRI-Elite ein Leben in Saus und Braus.
Arbeitskämpfe führen die Iran-Revolution fort
Die vergangene Aufstandswelle im Iran, ausgelöst durch den Tod von Jina Mahsa Amini am 16.09.22, war die heftigste, die IRI jemals erlebt hat. Zugleich ist es die letzte Episode des revolutionären Prozesses im Iran – einem Prozess, der früher oder später zum Ende der IRI führen wird, zu groß ist der Riss zwischen der Elite und der sehr jungen Bevölkerung des Landes. Auch wenn die Machthabenden alles dafür tun, um wieder eingekehrte Normalität zu propagieren, ist das Land immer noch im Ausnahmezustand – von Friedhofsruhe keine Spur. Hierfür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: erstens weigern sich mutige Iraner*innen weiterhin, im Alltag den obligatorischen Hijab zu tragen. Bilder kopftuchloser Frauen und Mädchen prägten die Aufstandswelle seit Aminis Tod – ausgelöst durch ein falsch sitzendes Hijab – von Beginn an, und noch immer rütteln diese frei wehenden Haare iranischer Frauen am Patriarchat der IRI und damit an einem seiner Grundpfeiler.
Der zweite Grund sind Streiks und Arbeitskämpfe, die schon die letzten sechs Monate der Iran-Revolution stark mitgeprägt haben. Kurz nach Aminis Tod trat der iranische Teil Kurdistans aus Solidarität mit der Protestbewegung in einen Generalstreik, über die Wochen und Monate schlossen sich Kolleg*innen aus unterschiedlichsten Sektoren an, unter anderem aus den Bereichen Bildung, Logistik, Metallindustrie, Landwirtschaft, Textilindustrie und Nahrungsmittelindustrie. Diese Streiks spielten eine zentrale Rolle in der Protestchoreografie der letzten Aufstandswelle. Während vor allem junge Menschen nachmittags und abends mit Demonstrationen und militanten Aktionen den Staat herausforderten, waren es Arbeiter*innen und Rentner*innen, die im Alltag durch ihre Aktionen die Proteste weiterführten und somit ihrer Solidarität mit den Jungen ganz praktisch Ausdruck verliehen.
Momentan ist zu sehen, dass die Arbeitskämpfe weitergehen, sie intensivieren sich sogar zu der größten Streikwelle, die die Islamische Republik je erlebt hat. Seit Wochen und Monaten befinden sich Rentner*innen, Lehrer*innen, Stahl- und Metallarbeiter*innen, Fernfahrer*innen, das medizinische Personal und weitere Sektoren im Streik und gehen immer wieder landesweit auf die Straße. Die vielleicht am besten organisierte unabhängige Gewerkschaft, die freie Lehrer*innengewerkschaft streikt in sehr hoher Frequenz. Zuletzt rief sie für den 09.05.23 zum landesweiten Streik auf. Sie machen dabei auf die katastrophalen Zustände an Schulen und Bildungsinstitutionen aufmerksam und solidarisieren sich immer wieder mit anderen Streikenden im Land.
Insbesondere ein Sektor beunruhigt die Machthabenden derzeit mehr als alle anderen, nämlich die Öl-, Gas- und Petrochemieindustrie. Das hat gleich mehrere Gründe. Erstens handelt es sich hierbei um den zentralen und entscheidenden Sektor der iranischen Ökonomie. Zweitens und damit verbunden hat diese Industrie eine hohe symbolische Bedeutung: es war der viel beachtete Ölarbeiter*innenstreik 1978, der dem bereits geschwächten Schah einen entscheidenden Nackenschlag verpasste und der Revolution zum Sieg verhalf. Nun sind es erneut Arbeiter*innen aus diesem Sektor, vor allem diejenigen mit befristeten Arbeitsverträgen, aus über 110 Standorten und Unternehmen in 14 der 31 Bundesländer, die ihre Arbeit immer wieder niederlegen und die für die iranische Ökonomie lebenswichtigen Profite einschränken. Die Streikwelle geht dabei über die Landesgrenzen des Iran hinaus und erreicht auch Standorte im benachbarten Irak. Aufgerufen zu den Protesten hat der «Rat für die Organisierung der Vertragsarbeiter im Ölsektor» bereits am 21. April. Dieser machte keine genaueren Angaben zur Teilnehmer*innenzahl, staatliche Medien berichten von bis zu 4000 Streikenden, die «ersetzt werden müssen». Es ist davon auszugehen, dass tatsächlich noch mehr Arbeiter*innen im Streik sind.
Die Bedeutung des Protests zeigt sich auch im deutlich freundlicher anmutenden Ton der Elite, der sich sogar verständnisvoll gibt und die Streikenden gar lobt. Kein geringerer als der Revolutionsführer der IRI, Khamenei, sagte jüngst: «Diese Proteste helfen der Regierung und unserem System, um die Forderungen zu verstehen». Hinterher wurden, nicht untypisch für seine Predigten, ein paar Krokodilstränen vergossen. Bemerkenswert für ein Staatsoberhaupt, das in nahezu allen anderen Protesten eine Verschwörung von außen wittert und sie brutal niederschlagen lässt. So auch hier: trotz dieser Rhetorik erleben die streikenden Arbeiter*innen gemäß der Null-Toleranz-Linie der IRI erhebliche Repression.
Bruch mit dem System und Solidarität als Waffe
Der Ton Khameneis ist nicht verwunderlich, schließlich wissen die Mullahs und die Revolutionsgarden um die Bedeutung der Streiks, insbesondere aus diesem Sektor – 1979 waren sie als Revolutionäre noch Nutznießer*innen, nun stehen sie auf der anderen Seite der Barrikade. Außerdem handelt es sich um ein soziales Milieu, um dessen Gunst die IRI stets bemüht war, die «einfachen Leute», wie sie sie nennen. In der Tat waren es lange Zeit die unteren Schichten, Arbeiter*innen, Arme und vor allem fromme Menschen, die die soziale Basis der IRI bildeten. Die Revolutionsgarden rekrutieren ihre Mitglieder mit großer Mehrheit aus den Armenvierteln und den dort gut besuchten islamischen Seminaren, dabei locken sie mit Privilegien wie Zugang zu Bildung, Wohnungs- und Gesundheitsmarkt. Konservative Präsidentschaftskandidaten, z.B. der ehemalige Präsident Ahmadineschad (2005-2013), gingen regelmäßig für den Wahlkampf in die Armenviertel und verteilten dort Geld und Almosen, was sie als «Volksnähe» inszenierten. Die Wahlergebnisse gaben ihnen Recht – viele aus diesem Milieu wählten mehrheitlich konservativ. So suchte das realpolitische Lager der «Reformisten» ein anderes Milieu und fand es Anfang der 2000er in einer jungen Generation aus der Mittelschicht, denen sie politische Freiheiten versprach und ein wenig mehr «Luft zum Atmen» versprach.
Diese Aufteilung – arme, fromme Menschen wählen konservativ, die Gut-Bürgerlichen, Gebildeten wählen Reformer*innen – bestimmte lange Zeit die innenpolitische Landschaft des Iran. Schon zu dieser Zeit gab es große und wirksame Arbeitskämpfe und Streiks, wie zum Beispiel der Busfahrer*innenstreik in Teheran 2004, der die Stadt teilweise lahmlegte. Solche Kämpfe durchbrachen die Mär von Einheit zwischen Arbeiter*innenklasse und Staat immer wieder. Und dennoch blieben die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Iran häufig in ihren Protesten und Anliegen getrennt. Der große Bruch mit und die Emanzipation der Arbeiter*innen und Armen von dem System IRI kam später, bei den Sozialprotesten 2017/2018 und 2019. Kleinste Auslöser wie die Erhöhung von Lebensmittel- und Benzinpreisen trieben dieses bis dato mit Protesten nicht besonders assoziierte Milieu massenhaft und landesweit auf die Straßen. Die IRI musste höchste Anstrengungen unternehmen, um diese Aufstandswelle zu stoppen. Eine Parole steht bis heute symbolisch für den revolutionären Prozess im Iran, der in dieser Zeit eingeleitet wurde: Ausgerechnet jene Arbeiter*innen, Arme und Mittellose – Garanten der IRI und ihrer Grundideen – riefen «Konservative, Reformer, das Spiel ist vorbei» und signalisierten: ein Frieden innerhalb dieses Systems ist nicht zu finden. Dieser radikale Grundgedanke prägt seitdem sämtliche Proteste im Iran und fand seinen bisherigen Höhepunkt in den Protesten nach dem Tod von Jina Mahsa Amini.
Folglich sind auch die Forderungen iranischer Ölarbeiter*innen vielseitiger, als es auf den ersten Blick scheint. Die Streikenden fordern eine Gehaltserhöhung um 79 Prozent, zehn arbeitsfreie Tage im Monat sowie mehr Sicherheit am Arbeitsplatz. Die Frage der Sicherheit ist eine elementare, denn nicht nur im Ölsektor müssen Arbeiten unter hohem Risiko für Leib und Leben erledigt werden – viele Menschen verunglücken dabei tödlich oder tragen schwere Verletzungen davon. Besonders betroffen sind Projektarbeiter*innen und jene mit befristeten Verträgen, die über keinerlei rechtliche Absicherung verfügen. Doch darüber hinaus formulieren die Streikenden politische Forderungen, wie ein Ende von Diskriminierung. Der «Rat für die Organisierung der Vertragsarbeiter im Ölsektor» schreibt dazu in einer Erklärung: «An einigen Orten ist zu beobachten, dass unsere Protestkundgebungen unter dem Vorwand aufgelöst werden, dass die Arbeiter*innen einer bestimmten Ethnie angehören. Dabei haben wir Arbeiter*innen aus allen Teilen des Landes gleiches Leid und gleiche Feinde. Wir alle protestieren täglich gegen die Armut, die steigenden Preise und die Verschlechterung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen.» Damit sprechen sie ein wichtiges und sensibles Thema im Iran an, nämlich die religiöse und rassistische Diskriminierung von Minderheiten, die sich auf allen Ebenen vollzieht. Die IRI nutzt seit ihrem Bestehen die verschiedenen Ethnien und Religionen, um die Menschen gegeneinander auszuspielen; die Minderheiten erfahren dabei eine ganz klare Abwertung, sie werden unterdrückt, ihre Sprachen werden verboten und regelrecht bekämpft. In der Arbeitswelt müssen sie sich mit prekären Verträgen zufriedengeben. Die Klassenfrage ist im Iran auch immer eine der (zugeschriebenen) ethnischen bzw. religiösen Identität. Auf dieses Thema beziehen sich die Ölarbeiter*innen, wenn sie ein Ende der Diskriminierung und Solidarität fordern.
Damit knüpfen sie an einen der wichtigsten Grundpfeiler des revolutionären Prozesses und dem zentralen Charakteristikum der vergangenen Aufstandswelle nach dem Tod Aminis: der Solidarität. Sie überbrückt Differenzen zwischen Ethnien, Religionen, Geschlechtern, Klassen und Generationen wie nie zuvor und untergräbt damit die um Spaltung bemühte IRI. Diese hat weiterhin Grund zu zittern, denn es geht um nichts weniger als ihre Existenz.
[1] Hervorhebenswert und gewissermaßen exemplarisch für den Charakter der IRI ist die Organisation «Arbeiterhaus», eine ehemals selbstorganisierte und in Zeiten der Revolution 1978/79 mächtige Rätestruktur. Sie wurde nach der Machtübernahme der Islamisten zunächst massiv bekämpft und anschließend übernommen. «Arbeiterhaus» ist nun ein staatlicher Gewerkschaftsdachverband und eine von vielen scheindemokratischen Institutionen, die die IRI zur Inszenierung einer Republik braucht.
Hamid Mohseni ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Seit 2009 verfolgt er die Entwicklungen im Iran und beteiligt sich an linken Solidaritätsinitiativen, die die demokratischen und sozialen Proteste dort kritisch begleiten.
Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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