Von Katajun Amirpur
Die Wirtschaft in Iran kriselt. Hinzu kommt die Gefahr eines Krieges. Doch obwohl Perspektiven fehlen, gibt es Freiräume und mutige Menschen. Die Islamwissenschaftlerin und Iranistin Katajun Amirpur wirft in ihrem Essay anhand einzelner persönlicher Begegnungen einen Blick auf die aktuelle Situation.
2009 fühlten sich Iranerinnen und Iraner vor allem um ihre politische Stimme betrogen, als sie zu Millionen auf die Straße gingen. Irans Zivilgesellschaft protestierte gegen eine in ihren Augen gefälschte Wahl. Es war der Sommer der "Grünen Bewegung", die vom Regime brutal unterdrückt wurde. Viele der politisch aktiven jungen Leute gingen nach der Niederschlagung der Proteste ins Exil; andere, meist ältere, verkrochen sich fortan zu Hause, weil sie auch ihren neuerlichen Versuch, nach der Revolution von 1979, als gescheitert sahen. Viele zogen sich auch einfach ins Apolitische zurück – und gaben auf.
Aber über 70 Prozent der Wahlberechtigten rafften sich noch ein weiteres Mal auf, nämlich zur Wahl Hassan Rouhanis in 2013. Nach der herben Enttäuschung vier Jahre zuvor war nicht unbedingt zu erwarten gewesen, dass sie überhaupt noch einmal daran glauben würden, an Wahlurnen eine Entscheidung über die Politik herbeiführen zu können.
Arbeitslosigkeit Iran (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
Die erwartete große Verbesserung vor allem im wirtschaftlichen Bereich blieb aus. Zum Jahreswechsel 2017/18 ging es daher bei den neuerlichen Protesten um weit Explosiveres als politische Partizipation und das ungerechte Agieren des Regimes. Es ging um wirtschaftliche Fragen – denn auch für Iran gilt: "It’s the economy, stupid." ("Es ist die Wirtschaft, Dummkopf.") Diesmal gingen tausende Iranerinnen und Iraner aus unterschiedlichen sozialen Schichten auf die Straßen – im ganzen Land und nicht nur zentriert in der Hauptstadt Teheran wie 2009. Die Proteste starteten in Maschhad, Irans zweitgrößter Stadt, die Menschen forderten Jobs und bezahlbare Lebensmittel.
Die wirtschaftliche Lage hat sich massiv verschlechtert
Im Zuge der Proteste vom Januar 2018 wurde Präsident Rouhani vorgeworfen, er habe seine Versprechen nicht erfüllen können. Damals war das Iran-Nuklearabkommen (Joint Comprehensive Plan of Action, kurz JCPOA, wurde 2015 in Wien unterzeichnet) noch in Kraft, für das Rouhani sein gesamtes politisches Geschick aufgebracht hatte. Doch für die kleinen Leute war der Erfolg, der das Nuklearabkommen durchaus auch in wirtschaftlicher Hinsicht war, kaum spürbar. Dass die Sanktionen gelockert wurden, merkten sie nicht, sie hatten dennoch weniger Geld im Portemonnaie. Außerdem blieben große Investitionen aus, die Wirtschaftskraft ließ nach. Dabei bestätigten Wirtschaftsexperten durchaus den Kurs Rouhanis: Er stehe für einen grundlegenden Wandel und mache seine Sache gut, erklärte beispielsweise der iranische Wirtschaftswissenschaftler Said Leylaz. Allerdings habe die Regierung mit sehr vielen Altlasten aus der Regierungszeit Mahmoud Ahmadinedschads zu kämpfen.
Seit 2018 hat sich die wirtschaftliche Lage massiv verschlechtert. Mit der Ankündigung der USA, aus dem Nuklearabkommen auszusteigen, und angesichts der damit drohenden Rückkehr der US-Sanktionen setzte der iranische Rial nach dem iranischen Neujahr (21. März 2018) auf dem freien Markt seine Talfahrt mit rasantem Tempo fort. Seit 2018 zeigen auch die Studierenden ihren Unmut über die hohen Kosten für Grundnahrungsmittel: "Wir essen doch ohnehin nur Pasta mit Butter oder Pasta mit Käse. Was sollen wir denn jetzt noch essen?" Überall machen Geschichten von der steigenden Kriminalitätsrate die Runde. Dass man nicht im Taxi bei offenem Fenster telefonieren soll wegen der Diebe auf dem Motorrad, wird einem von besorgten Verwandten geraten. "Woher sollen sie es auch nehmen, sie wollen doch nur überleben", fügt die Cousine fast verständnisvoll hinzu, als ich von meinem Rucksack berichte, den eine Studentin auf dem Campus der Uni Teheran aus Versehen mitgenommen hatte.
Wer mit Deutschen durch das Land reist, wird alle paar Meter nach den Möglichkeiten der Einreise gefragt. Schon früher wurde über die Islamische Republik mit den Füßen abgestimmt, aber inzwischen zieht es sehr viele Menschen weg. Die Hoffnung auf Reformen ist schon lange verflogen, man hatte Rouhani 2017 fast wider besseres Wissen noch einmal eine Chance gegeben und ihn wiedergewählt. Inzwischen sind allgemeine Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit wohl die Wörter, die die Zukunftserwartung am besten beschreiben. Der Währungsverfall hat dazu geführt, dass das Ersparte weg ist; junge Leute können an eine Heirat nicht einmal mehr denken, geschweige denn daran, eine Familie zu gründen.
Es geht um Armut und Arbeitslosigkeit, weniger um politische Freiheit
Die schlechte wirtschaftliche Lage führt auch dazu, dass kaum noch Forderungen nach politischen Freiheiten laut werden. Wie auch: Wer mehrere Jobs hat, um sich und die Familie über Wasser zu halten, denkt nicht mehr über Presse- oder Meinungsfreiheit nach. Die Mittelschicht ist weggebrochen, seit nicht mal mehr der Lohn eines Professors ausreicht, um eine Familie zu ernähren. Auch der Professor hat jetzt noch einen zweiten Job und denkt dann am Abend nicht mehr über die herrschende Zensur nach.
Im Moment sind es Themen wie wachsende Ungleichheit, Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit, die die Menschen bewegen. Sie haben nur kaum noch eine Perspektive, wie sich daran etwas ändern sollte. Alle Möglichkeiten und Maßnahmen scheinen ausgeschöpft, Perspektiven haben sich in Luft aufgelöst. Denn im Moment geht die Angst vor einem Krieg um. Die iranische Bevölkerung ist sich ziemlich sicher, dass die USA diesen Krieg wollen. Und die Aussicht, die die USA den Iranerinnen und Iranern bietet – nämlich den selbst herbeigeführten Sturz des Regimes – ist für die Menschen keine Option. Im Gegenteil: der drohende Krieg schließt die Reihen hinter dem Regime. Zum einen sind viele der Auffassung, dass die Regierung in diesem Fall nichts falsch gemacht hat. Immerhin hat sie sich bislang an die Verpflichtungen aus dem Iran-Nuklearabkommen gehalten, wie die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) mehrfach festgestellt hat. Zum anderen aber missfällt den Iranerinnen und Iranern die Arroganz und Ignoranz des US-Präsidenten Donald Trump. Und sie hegen ein jahrhundertelang gewachsenes Misstrauen gegen Einmischung von außen.
Schon bei den Unruhen im Dezember 2017 und Januar 2018 wurde spürbar, welche andere Sorge die Zivilgesellschaft zudem umtreibt: die Sorge vor einem Staatszerfall. Als während der Proteste Polizei- und Armeestationen von Demonstranten eingenommen wurden, noch dazu in den Randprovinzen Irans, in denen die ethnischen Minderheiten leben, bekamen es viele mit der Angst zu tun. Auch eingeschworene Demokraten wollten nicht, dass den kurdischen Aufständischen Waffen in die Hände fallen. Teile der kurdischen Minderheit in Iran wollen die Unabhängigkeit, und seit 2015 kämpfen sie dafür auch wieder mit Waffengewalt. Demokraten und Reformer sind sich der Tatsache bewusst, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, wenn die staatliche Einheit einmal gefährdet wäre. Auch daher reagieren sie sehr verhalten auf Trumps Idee, die Iranerinnen und Iraner sollten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Irans Zivilgesellschaft macht weiter
Auch das zivilgesellschaftliche Engagement von Umweltaktivisten oder Frauenrechtlerinnen tritt in den Hintergrund vor der gegenwärtigen Bedrohung. Das ist doppelt schade, denn die iranische Zivilgesellschaft hat großes Potenzial. Gleichwohl wird die Unterdrückung fortgesetzt. So sitzen mehrere Umweltaktivisten seit Monaten in Haft. Der Vorwurf: Hochverrat und Spionage.
Iran ist ein Land mit einem hohen Bildungsstandard, einer hohen Alphabetisierungsquote, über 65 Prozent aller Studierenden sind Frauen. Zudem ist Iran ein urbanes Land; 75 Prozent aller Iranerinnen und Iraner leben in Städten und haben dort Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln. Zwar gibt sich die Regierung alle Mühe, Nachrichten im Internet zu filtern, doch mittels eines VPN-Clients lässt sich anonym surfen, sodass viele auch auf zensierte Seiten kommen können und bestens informiert sind. Über den besonders in Iran beliebten Messaging-Dienst Telegram werden Informationen ausgetauscht, so wird vor allem das Nachrichtenmonopol des Staates gebrochen. Hier finden auch Diskussionen über Themen wie Meinungsfreiheit, politische Partizipation etc. statt. Hinzu kommt, dass der iranische Buchmarkt zwar zensiert ist, aber immer noch überrascht eine erstaunliche Bandbreite interessanter Literatur, sowohl von internationalen wie auch von iranischen Autorinnen und Autoren.
Beeindruckend ist auch die Lebendigkeit und Vielfalt der iranischen Theaterszene. In zahlreichen kleinen Theatern wird in Teheran Vielstimmigkeit zelebriert wie man sie in einer Islamischen Republik nicht erwarten würde. Ein Beispiel ist das Stück Timeloss der Mehr Theater Group, das im Frühjahr 2020 auch in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen sein wird. In einem Beziehungsdialog redet ein Paar sehr offen über die gescheiterte Ehe. Oder die aktuelle Inszenierung "Language of Sleep" im Tehran Independent Theater, die das Leben der in Rumänien geborenen Herta Müller und der Iranerin Simin Daneshvar nachzeichnet – zwei Schriftstellerinnen, die beide Erfahrungen mit autoritären Regimen und Ländern gemacht und die Umbrüche dort erlebt haben.
Geradezu trotzig der politischen Situation entgegen stellt sich auch die Café-Szene, wo ein Teil der Jugend sich trifft und neben gutem Kaffee den Austausch über Themen aller Art genießt. In vielen dieser Cafés findet man Bücherregale und junge Menschen, die sich über persische Literatur beugen. Eine angenehmere Beschäftigung als Politik, aber eben auch eine Möglichkeit, sich Freiräume zurückzuerobern.
Eine Filmreihe, die von der iranischen Regisseurin Rakhshan Bani-Etemad initiiert wurde, zeigt eindrücklich, welches Potenzial in dieser hoch gebildeten und hoch motivierten Zivilgesellschaft steckt. Bani-Etemad schob das Projekt Karestan an, in dem Dokumentarfilmer und -filmerinnen zivilgesellschaftliches Engagement porträtieren und in Kinos zeigen sollten, um Nachahmerinnen und Nachahmer zu ermutigen. So entstand ein Film über eine Frau, die im Norden Irans biologischen Reis anbaut. Ein anderer Film widmete sich einem Ehepaar, das im Süden Irans eine Recycling- und Mülltrennungs-Anlage betreibt: Haydeh Shirazi kehrte aus Deutschland nach Iran zurück, um gegen Luft- und Wasserverschmutzung zu kämpfen. Ebenso wollte sie städtischen Müll reduzieren und recyceln. Durch ihr zähes Engagement wurde sie Wassermanagerin in Kermanshah; heute wird der gesamte Müll der Stadt recycelt. Shirazi ist aber noch nicht an ihrem Ziel, sie kämpft für Recyclingzentren in ganz Iran.
Das von Bani-Etemad initiierte Film-Projekt will vor allem eines: Mut machen. So zeigt der Dokumentarfilm durchaus, auf welche Schwierigkeiten Unternehmer und Unternehmerinnen stoßen. Aber er zeigt eben auch, wie man diese mit viel Tatkraft überwinden kann, auch und gerade in Iran – wenn kein Krieg und Sanktionen es verhindern.
Es stellt sich somit die Frage, wie sich die internationalen Sanktionen auf die innenpolitischen Entwicklungen konkret auswirken werden und auch die der sogenannten mentalen Effekte auf die Bevölkerung: Wird die verschlechterte materielle Lage vieler Iranerinnen und Iraner weitere Einschränkungen durch das Regime oder mehr Freiheiten im politischen und kulturellen Bereich nach sich ziehen? Wird es Anpassungsprozesse geben oder wird die Bevölkerung weitere drohende materielle Engpässe durch Aktivitäten und ein gesteigertes politisches Interesse kompensieren? Grundsätzlich gilt: Härtere Sanktionen, also jene, die besonders hohen wirtschaftlichen Schaden im Zielland anrichten sollen, haben nicht unbedingt einen höheren politischen Erfolg. Vielmehr vermögen es sanktionierte Regime oft, sich gegen Sanktionseffekte abzuschirmen.
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