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Kampf um die Erinnerung – was hinter der Schließung der Haftanstalt Gohardasht steckt

Der „Gottesstaat“ Iran eliminiert die Orte, die an seine gravierenden Menschenrechtsverletzungen erinnern. Auf der anderen Seite widmet sich die iranische Gesellschaft mehr und mehr der Erinnerungskultur.




Am 5. August 2023 wurde die berühmte Haftanstalt Gohardasht offiziell geschlossen, nachdem die letzten Insassen in das Ghezel-Hesar-Gefängnis verlegt worden waren. Diese Verlegung erfolgte im Wesentlichen auf Anordnung des Justizchefs der Islamischen Republik, der auch die baldige Schließung des Ghezel-Hesar-Gefängnisses ankündigte.


Damit wird einer der wichtigsten Erinnerungsorte iranischer Spätgeschichte umgewandelt, wenn nicht komplett zerstört. Denn Gohardasht ist nicht nur eine reguläre Haftanstalt. Dieser Ort ist die Bühne eines der dunkelsten Kapitel in der Historie der Unterdrückung und damit des Widerstands im Iran.


Das Gohardasht-Gefängnis liegt in der Provinz Alborz, nördlich der Metropole Karaj. Jedoch gehört es zu den Vollzugsanstalten der Provinz Teheran. Inhaftiert waren in dem Gefängnis unter anderem Hunderte politische Gefangene. Die Schließung des Gefängnisses hatte am 10. April 2023 Ayatollah Mohseni Eje’ee angekündigt, der Chef der iranischen Justiz. Der Gouverneur der Provinz behauptete am 6. April, die Schließung des Gefängnisses erfolge auf die Forderung der lokalen Bevölkerung. Auch Mohseni Eje’ee sagte, das Ziel sei das Wohlbefinden der lokalen Anwohner*innen.


Die Islamische Republik plant seit Jahren, die Vollzugsanstalten, die sich in Städten befinden, zu verlagern. Im Januar 2017 beschloss das iranische Parlament, der Majlis, dass 20 Haftanstalten aus den Innenstädten an die Stadtränder verlegt werden sollten. Von höchster Priorität seien demnach die Gefängnisse der Großstädte und Metropolen.


Der Prozess hat nach der Amtsübernahme von Präsident Ibrahim Raisi Fahrt aufgenommen, was angesichts der Geschichte des Gohardasht-Gefängnisses keine zufällige Entwicklung zu sein scheint.



Raisi im Schatten seiner Vergangenheit


Es besteht kein Zweifel daran, dass Präsident Raisi unmittelbar und aktiv an den Massenhinrichtungen im Iran vom Sommer 1988 beteiligt war. Als damaliger stellvertretender Staatsanwalt der Hauptstadt war er Mitglied eines vierköpfigen Komitees, das zwischen Juli und September 1988 Tausende politische Gefangene innerhalb weniger Minuten zum Tode verurteilte. Viele dieser Hingerichteten standen kurz vor ihrer Freilassung und hatten ihre Strafe nahezu abgesessen. Der Ort, an dem die Massenexekutionen im Sommer 1988 begannen, war kein anderer als das Gohardasht-Gefängnis. Obwohl diese Todesurteile sich nicht auf eine bestimmte Einrichtung oder Region im Land beschränkten, nehmen die Ereignisse von Gohardasht einen besonderen Platz ein, wie es das Erleben der Hingerichteten, der Angehörigen und Überlebenden belegt.


Eine von ihnen ist Monireh Baradaran. Die heute 69-Jährige war in den 1980er Jahren unter anderem in Gohardasht gefangen gehalten worden: „Innerhalb von etwa sechs Wochen wurden Tausende in diesem Gefängnis hingerichtet. In der Moschee der Anstalt hing das Hinrichtungsseil permanent. Die Gefangenen sahen, wie Schubkarren die Schuhberge der Hingerichteten nach draußen brachten, ebenso die Kühlwagen, die die Leichen abtransportierten.“ Baradarans Beobachtung deckt sich mit den Zeugenaussagen eines beispiellosen Gerichtsverfahrens in Schweden. Am 14. Juli 2022 verurteilte ein Stockholmer Gericht einen iranischen Staatsbürger namens Hamid Nouri zu lebenslanger Haft wegen seiner Beteiligung an den Hinrichtungen in Gohardasht während jenes Sommers. Er soll damals der Assistent des zuständigen Staatsanwaltes in der Haftanstalt gewesen sein. In diesem Prozess sagten 34 Ankläger*innen und 26 Zeug*innen aus. Der Angeklagte Nouri wies die Anklagen und Zeugenaussagen insofern zurück, als er behauptete, im Iran gebe es kein Gohardasht-Gefängnis. Er habe im Rajai-Shahr-Gefängnis gearbeitet. Das zeigt einen älteren Versuch des islamischen „Gottesstaates“, die Einrichtung von Erinnerungen zu befreien: Anfang März 1989 – einige Monate nach den Massenhinrichtungen – beschloss die Regierung, den Bezirk Gohardasht, in dem das Gohardasht-Gefängnis liegt und nach dem es benannt war, in Rajai-Shahr umzubenennen. Seitdem wird in staatlichen Dokumenten die Haftanstalt auch „Rajai-Shahr-Gefängnis“ genannt. In den staatsnahen und staatlichen Medien herrscht ein absolutes Schweigen über den Namen „Gohardasht-Gefängnis“.


Monireh Baradaran ist der Meinung, dass der Name durch Nouris Prozess weiter in Verruf geraten sei. Das habe das Regime zu der Reaktion gezwungen, die Einrichtung komplett zu schließen.


Die Schließung von Gohardasht ist weitaus nicht der erste und einzige Versuch des islamischen Regimes, die Erinnerungen an die Hinrichtungen von 1988 auszulöschen. Auch der Friedhof, auf dem Tausende von den damals Hingerichteten begraben sind, soll in Vergessenheit geraten, wenn es nach den schiitischen Machthabern geht. Eine unbekannte Zahl von Exekutierten jenes Sommers wurde auf dem Khavaran-Friedhof begraben. Historisch gesehen handelt es sich dabei um einen Friedhof für religiöse Minderheiten. Jedoch haben die Sicherheitskräfte die Leichen von hingerichteten politischen Gefangenen neben dem eigentlichen Friedhof begraben, in unmarkierten Massengräbern. Dies geschah ebenso heimlich wie die Hinrichtungen selbst, ohne Benachrichtigung der Familien. Erst später erfuhren die Hinterbliebenen davon. Jedes Jahr im September versammeln sie sich auf diesem Friedhof, um ihrer hingerichteten Liebsten zu gedenken. Diese Versammlungen gehen fast nie ohne Auseinandersetzungen mit der Polizei und ohne Verhaftungen aus.


2008 berichteten Familien, dass die Regierung Maßnahmen ergriffen habe, um den Friedhof zu zerstören. 2018 bestätigte Amnesty International diese Berichte.


Als das Regime in den frühen 80er Jahren die ersten politischen Hingerichteten dort begrub, lautete der Plan, dass niemand je davon erfahren sollte, erzählt Monireh Baradaran, die Autorin von „Erwachen aus dem Albtraum“. Doch dank des Engagements der Familien wurde der Ort im Laufe der Zeit bekannt: „Angehörige von Hingerichteten, die sich teilweise vor den Gefängnissen kennengelernt hatten, fanden wieder zusammen auf diesem Friedhof. Zuerst gingen sie einzeln nach Khavaran. Daraus entstanden nach und nach gemeinsame Besuche. Die Tragödie des Sommers 1988 brachte sie zusammen. Allmählich wurden sie von der Gesellschaft wahrgenommen.“


Video- und Fotoaufnahmen von Mitte der 2000er Jahren legen an den Tag, wie Hunderte auf den Friedhof marschieren und Erinnerungslieder für die Hingerichteten singen.


„Diese Erinnerungsorte wurden und werden nur dann zu Erinnerungsorten, wenn die politischen Akteuer*innen sich dafür einsetzen. Ansonsten sind es lediglich Orte. Ohne Widerstand von Hinterbliebenen wäre Khavaran nur eine Wüste gewesen im Teheraner Vorort. Gohardasht wäre ein Gefängnis gewesen wie alle anderen“, sagt Monireh Baradaran, die selbst nur durch Glück die Massenhinrichtungen überlebt hat. Das politische Engagement der Hinterbliebenen und Überlebenden habe die Erinnerungen an Gohardasht und Khavaran im kollektiven Gedächtnis von Iranern und Iranerinnen rekonstruiert, sagt sie.



Die Angehörigen der hingerichteten politischen Gefangenen im Sommer 1988 besuchen regelmäßig die Massengräber ihrer Kinder im Khavaran-Friedhof


Die Erinnerungskultur setzt sich durch


Noch vor einer Dekade hätte man behaupten können, dass es dem „Gottesstaat“ weitgehend gelungen sei, zu verhindern, dass das Massaker von 1988 in der öffentlichen Debatte thematisiert wird. Seit einigen Jahren jedoch beeinflusst die Suche nach Gerechtigkeit für das Massaker von 1988 den öffentlichen Diskurs stark. Die Frage, warum sie ermordet wurden, werde in letzter Zeit viel mehr gestellt, sagt Monireh Baradaran, deren Bruder 1981 hingerichtet wurde. „Auch in den jüngsten Protesten haben wir das deutlich sehen können. Der Mord an Jina Mahsa Amini hat nicht nur bei ihrer Familie, sondern auch in ihrer Heimatstadt, im ganzen Kurdistan und dann im gesamten Land Widerstand hervorgerufen.“ Auch das Regime habe erkannt, dass die Suche nach Gerechtigkeit und die Kultur des Gedenkens das Potenzial haben, zur Schaubühne des Widerstands zu werden. Daher plane es, diese Orte zu vernichten. „Nichtsdestotrotz haben wir noch einen langen Weg vor uns in Bezug auf die Kultur des Gedenkens“, sagt Baradaran, die eine Online-Plattform zur Erinnerung an die Hingerichteten der 1980er Jahre mitgestaltet. „Denn nur durch das Erinnern können wir verhindern, dass sich solche Ereignisse wiederholen.“♦




Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung vom IranJournal

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