Nicht nur die iranische Gesellschaft wendet sich zunehmend vom Islam ab, sondern auch das Regime selbst. Nationale Größe hat sogar offiziell Vorrang vor dem Koran. So die These von Katajun Amirpur in ihrem neuen Buch „Iran ohne Islam“. Darin beschreibt die Professorin für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln, welche Wandlungen das Regime durchgemacht hat und warum sich immer mehr Menschen vom Islam abwenden – hin zu anderen Religionen, zu einer individuellen Gottgläubigkeit oder zu einer säkularen Haltung. Die Iraner, so Amirpur, haben begonnen, die Fassade des Islamismus niederzureißen.
Nachfolgend eine Leseprobe aus dem Buch, die Einleitung „Der Aufstand gegen den Gottesstaat“.
Katajun Amirpur:
Iran ohne Islam.
ISBN 978-3-406-80306-2
Hardcover 25,00 €
e-Book 18,99 €
Einleitung: „Der Aufstand gegen den Gottesstaat“
Nach meiner Kindheit in Iran in den siebziger Jahren habe ich das Land 1991 zum ersten Mal wieder besucht. Ich war erstaunt, wie anders Iran ist, als ich angenommen hatte. Zwei Jahre nach dem Tod des Revolutionsführers Khomeini war Iran zwar eine Diktatur, aber eine, in der sich die Menschen erstaunlich viele Freiräume erkämpften. Nie werde ich ein Erlebnis beim Zoll am Teheraner Flughafen nach meiner ersten Einreise vergessen. Mein Koffer war beim Umsteigen verloren gegangen und wurde nachgesendet, und so musste ich nach Mehrabad, um ihn abzuholen. Als ich dort in einer endlos langen Schlange wartete, hörte ich auf einmal eine Frau losbrüllen, die ähnlich entnervt war wie ich: «Rafsandschani», schrie sie, «zieh dir ein paar ordentliche Klamotten an und deinen Turban aus und komm hierher und guck dir an, wie unfähig die hier sind, wie eure miese Verwaltung des Landes uns alle in den Wahnsinn treibt!» Ich befürchtete, man würde sie abführen, doch die Wachposten schauten weg, man meinte gar, ein zustimmendes Nicken zu sehen.
Das Beispiel zeigt, wie viel Widerspruch vom Regime hingenommen werden musste und muss, weil man mit der Unterdrückung nicht nachgekommen ist. Dieses Buch will zeigen, wie sich in den neunziger Jahren der Widerstand zu artikulieren begann, sich allmählich Spielräume erarbeitete und von einer intellektuellen Reformbewegung zu einer politischen Bewegung wurde, der viele Menschen vertrauten. Es geht aber auch um das Scheitern der Versuche, die Islamische Republik zu reformieren, sodass sich heute die Frage stellt, ob das Regime sich hält oder fällt – oder besser: wann der Aufstand gegen den selbsterklärten Gottesstaat Erfolg haben wird.
Wir sehen seit September 2022 die unbändige, nicht einzudämmende Wut von Zehntausenden jungen Menschen und ein Nein zum islamistischen, vergreisten Regime, das alle Teile der Gesellschaft erfasst. Jeder kann sich anschließen, geht wegen seines eigenen Leids, seiner eigenen Wut, seines eigenen Frusts auf die Straße: die Frauen, die federführend sind, aber auch die ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten sowie ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen – Arbeiter, Angestellte, Lehrer, Studenten, Professoren. Jeder denkt: Was Jina Mahsa Amini passiert ist, als sie am 16. September 2022 im Gewahrsam der Sittenpolizei zu Tode kam, hätte mir, meiner Mutter, meiner Schwester, meiner Cousine auch passieren können, es betrifft uns alle. Das ist anders als bei den bisherigen Protesten, die wir spätestens seit 2009 beobachten. Wir wissen durch Leaks der iranischen Hackergruppe Black Reward, dass das Regime gerade das Schichtenübergreifende des Protests als veritable Gefahr einschätzt.
Der Sänger Shervin hat in den ersten Tagen nach Beginn des Aufstands Twitter-Nachrichten der Demonstranten gesammelt und vertont. Die Protesthymne Baraye – auf Deutsch «Dafür», «Wegen» – fasst eindrucksvoll zusammen, worum es den Menschen geht: Der Aufstand richtet sich nicht nur gegen das Kopftuchgebot oder gegen die Misswirtschaft, er kämpft nicht nur für politische Freiheiten. Es ist ein Aufstand gegen den «Gottesstaat» in seiner Gesamtheit. Daher ist es ein feministischer Aufstand, denn dem Feminismus geht es nicht darum, Frauen anstelle von Männern an die Macht zu bringen, sondern um Selbstbestimmung für alle. Der Zwang zum Kopftuch ist für die Aufständischen ein Symbol für die Verweigerung von Selbstbestimmung. Deshalb reißen sich seit September 2022 junge Mädchen ihre Kopftücher herunter.
Es geht bei den Protesten nicht nur um das Recht, sich zu kleiden, wie man möchte. Es geht für die 50 Prozent der Iraner, deren Muttersprache nicht Persisch ist, darum, in der Schule in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Es geht für Lesben und Schwule darum, ihre sexuelle Orientierung ohne Angst leben zu können. Es geht für die Bahais darum, ihre Religion ausüben zu können. Es geht für die Juden und Christen darum, als Angehörige einer religiösen Minderheit vollkommen gleichberechtigt zu sein – und so weiter. In seinem Song hat Shervin diese Anliegen versammelt: Er singt für das Tanzen auf der Straße, für das Mädchen, das sich wünscht, ein Junge zu sein, für die Freiheit. Deshalb lautet der Slogan des Protests: «Frau, Leben, Freiheit» – Zan, zendegi, azadi. Ohne Frauen kein Leben. Ohne Frauen keine Freiheit.
Ein revolutionärer Prozess
Ist der Aufstand bereits eine Revolution? Das wird man erst im Rückblick sagen können. Mit Sicherheit sehen wir hier aber einen revolutionären Prozess. Der hat schon vor ein paar Jahren begonnen, manche meinen 2009, andere 2017 oder 2018/19. 2009 ging der Protest vor allem von der Mittelschicht aus, die sich angesichts einer gefälschten Wahl betrogen sah. 2017 und 2018/19 gingen Menschen aus der Unterschicht zum ersten Mal in größerer Zahl auf die Straße. Sie wandte sich gegen die soziale Ungerechtigkeit, aber damit auch gegen die Islamische Republik als Ganze. Denn immerhin war diese angetreten, um soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen. Die Proteste der Unterschicht richteten sich deshalb gegen die Geistlichkeit ebenso wie gegen die Revolutionsgarden, gegen die Radikalen ebenso wie gegen die Reformer. Damit hatte sich die soziale Basis des Regimes gegen das Regime gestellt.
Unter Sozialwissenschaftlern ist umstritten, ob es sich bei diesen vorangegangenen Protestwellen um verzweifelte Formen der Unmutsäußerung oder bereits um politische Massenbewegungen handelte. Der in den Niederlanden lehrende Asef Bayat sieht die früheren Proteste als Bewegungen der Armen, die eigentlich eine Form von «Nichtbewegung» sei. «Non-movement» nennt er diese kollektive Aktion städtischer Unterschichten, des Volkszorns: eine kollektive Aktion nichtkollektiver Aktivisten. In dem Sinne sind die Proteste, so Bayat, das Ergebnis des Sozialverhaltens einer großen Zahl gewöhnlicher Menschen. Deren verstreute, aber einheitliche Aktionen können theoretisch weitreichende soziale Veränderungen bewirken, selbst wenn sie keiner Ideologie, Führung und Organisation unterliegen. Während Studenten oder Arbeiter ihre Forderungen im Rahmen einer Universität oder Gewerkschaft erheben können, sei für Arbeitslose, Hausfrauen und andere nichtorganisierte Gruppen die Straße die politische Arena, in der sie Forderungen artikulieren können. 2022 und 2023 sehen wir all das zusammenkommen: Wir sehen die Straße als Arena, aber ebenso die Universität, die Schule und den Bazar.
Die Proteste sind nicht neu und werden immer häufiger und intensiver. Das iranische Innenministerium selbst nennt unglaubliche Zahlen: In den ersten vier Jahren der Präsidentschaft von Hasan Rohani, das heißt seit August 2013, so ein Sprecher im Januar 2018, habe es 43000 genehmigte und nicht genehmigte Kundgebungen gegeben. Das wären 30 pro Tag. Bei einem Treffen der Revolutionsgarden wurde im November 2021 aus einem Protokoll zitiert, demzufolge Protestversammlungen 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent zugenommen hatten, die Zahl der Demonstranten war in diesem Zeitraum um 98 Prozent gestiegen.
Die Wut der Jugend wurde zudem durch ein Jahrzehnt voller Wirtschaftskrisen angeheizt. Gut ausgebildete Iraner warten nach dem Hochschulabschluss im Schnitt zweieinhalb Jahre auf ihren ersten Job. 2021 waren fast die Hälfte aller Frauen zwischen 20 und 30 Jahren mit einem Bachelorabschluss und ein Viertel ihrer männlichen Altersgenossen arbeitslos.
Entscheidender noch als die Zahl der Protestversammlungen und ihrer Teilnehmer ist deren berufliche und soziale Zusammensetzung. Von 2015 bis 2020 wurden laut der iranischen Nachrichtenagentur IRNA 57 Prozent der Proteste von Arbeitern getragen. Sie seien bedarfsorientiert und gewerkschaftlicher sowie politischer Natur gewesen. 717000 Lehrer der 110000 Schulen des Landes waren an diesen Protesten beteiligt. Sollte es in Iran zu Veränderungen kommen, so hängen sie von diesen beiden Gruppen ab: Die Arbeiter sind die größte soziale Gruppe, und die Lehrer sind gut vernetzt und organisiert. Hinzu kommen die Frauen. Sie stellen die Mehrheit der Gesellschaft – und sie bekommen internationale Unterstützung für ihre Anliegen.
Letzteres liegt maßgeblich an Masih Alinejad. Die in Iran aufgewachsene Journalistin, die heute in den USA lebt, hob 2014 die Facebook-Kampagne My Stealthy Freedom, «Meine heimliche Freiheit», aus der Taufe. Frauen posteten auf ihre Anregung hin Bilder von sich ohne Kopftuch. Damit beförderten sie im Internet das Aufbegehren gegen den Hidschab-Zwang. Hinzu kam die Aktion «Weißer Mittwoch», die sie ebenfalls initiierte. Alinejad ermutigte Frauen, mittwochs als Zeichen der Solidarität ein weißes Kopftuch zu tragen. Sie erklärt: «Das waren fast immer One-Women-Aktionen. Aber dann gingen diese Videos durchs Netz. Und plötzlich waren wir im Gespräch: ‹Hast du von denen mit den weißen Schleiern gehört?› Das hat eine riesige Debatte in Iran ausgelöst, bis hin zu den Freitagsgebeten. Da wurde natürlich gesagt: Diese Frauen mit den weißen Kopftüchern, das sind Prostituierte! Aber diese Verleumdungen haben uns nur noch stärker gemacht.» (www.emma. de/artikel/sie-war-die-erste-335645)
Außerdem startete die Kampagne «Die Mädchen der Revolutionsstraße». Auch sie begann als One-Woman-Show: Vida Movahed stellte sich auf einer der zentralen Straßen Teherans, der Enghelab-Straße, Revolutionsstraße, auf einen Stromverteilerkasten und schwenkte ihr Kopftuch wie eine Fahne an einem Stock. Viele Frauen folgten Vida Movaheds Beispiel. Als es im Herbst 2019 wegen der massiven Erhöhung des Benzinpreises wieder einmal zu Protesten kam, bei denen Frauen stark präsent waren, bezeichnete das Regime sie als Proteste von Feministinnen. Damit sollte unterstellt werden, sie seien vom Ausland gesteuert. Mitten in der Pandemie kam es 2020 zur nächsten Kampagne von Frauen. Wie die «MeToo»-Bewegung in westlichen Ländern machte sie sexuelle Gewalt zum Thema. Opfer fanden sich in allen Gesellschaftsschichten.
All diese Kampagnen trugen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.
Auch Künstler und Sportler zeigen viel Solidarität, gar Kampfeslust. Der beliebte Fußballer Ali Daei, ehemaliger Bayern-Spieler und mit 109 Toren für die iranische Nationalmannschaft der zweiterfolgreichste Länderspiel-Torschütze der Welt, veröffentlichte regimekritische posts. Die Kletterin Elnaz Rakabi und die Schachgroßmeisterin Sara Khadem traten trotz Verbots bei internationalen Wettkämpfen ohne Kopftuch an. Die Bogenschützin Parmida Ghassemi ging mitten in Teheran ohne Kopftuch auf die Tribüne und stand barhäuptig hinter einem Sport-Funktionär, als die Siegerehrung live übertragen wurde. Der Strandfußballspieler Saeed Piramun schnitt sich nach einem Tor symbolisch die Haare ab. Das Abschneiden der Haare galt im vorislamischen Iran als Zeichen der Trauer um Verstorbene. Film-Regisseure posteten Videos, in denen sie die Gewalt des Staates verurteilten, und der bekannteste Fußballkommentator des Landes, Adel Ferdousipur, trat in seiner früheren Universität, der Sharif-Universität, auf, die im Oktober 2022 von Einheiten des Regimes gestürmt worden war, und forderte die Freilassung der inhaftierten Studenten.
Der bekannte Radiosprecher Mohammad Omrani sorgte in den Social Media für Aufmerksamkeit, als er ebenfalls im Oktober 2022 ein Video von sich machte und sagte: «Ich schweige nicht länger, ich bin ein alter Mann, ich will in Frieden sterben. Ihr seid bewaffnet? Nun, auch wir sind bewaffnet.» Er nannte die Namen der Getöteten: Mahsa, Nika, Navid, und fuhr fort: «Unser Blut. Das ist unsere Waffe. Ihr müsst davon gehört haben, dass Blut über das Schwert siegt. Und nun werdet ihr es sehen. Welcher Schrei ist lauter als der unserer getöteten Kinder? Von Kurdistan bis Zahedan.» Dieser Radiosprecher hat eine Stimme, die einem in die Glieder fährt.
Das Eintreten der Celebrities aus Sport und Kultur für die Bewegung motiviert diese ungemein und verschafft ihr internationale Aufmerksamkeit. Wenn die weltbekannte Schauspielerin Taraneh Alidusti verhaftet wird, weil sie sich ohne Kopftuch auf Instagram mit dem Slogan der Bewegung gezeigt hat, oder die Familie von Ali Daei an der Ausreise gehindert wird, macht der Aufstand gegen den Gottesstaat wieder internationale Schlagzeilen.
Die islamische Erziehung war das Ziel des Gottesstaates. Darauf zielten die Lehrpläne an den Universitäten und Schulen ab. Doch ausgerechnet an den Schulen und Universitäten regt sich der größte Protest. Schülerinnen reißen Khamenei-Bilder von der Wand, stellen sich mit offenen Haaren an die Tafeln, schreiben Zan, zendegi, azadi – «Frau, Leben, Freiheit» – darauf und jagen ihren Schuldirektor mit leeren Wasserflaschen vom Hof. Der Versuch der Islamisierung der gesamten Gesellschaft ist gescheitert.
Inzwischen solidarisieren sich auch eingeschworene Islamistinnen mit den Protesten, etwa die Tochter des ehemaligen Präsidenten Rafsandschani, Faezeh Hashemi. Sie gehört zu den Frauen, die das Kopftuch aus Überzeugung tragen. Und dennoch ging sie im Herbst 2022 auf die Straße, um für Frauen einzustehen, die den Hidschab nicht tragen wollen. Sie kam sofort ins Gefängnis für ihren Protest. Aufsehen erregte das Video der Nichte von Revolutionsführer Khamenei, Farideh Moradchani. Sie verurteilt das «Kinder tötende Regime» und schließt mit: Zan, zendegi, azadi. Ihre Mutter Badri hat sich von ihrem Bruder distanziert. «Ich stelle mich gegen das Handeln meines Bruders und erkläre mich solidarisch mit allen Müttern, die die Verbrechen der Islamischen Republik beweinen.» Frauen wie Fatemeh Sepehri, die so tief verschleiert sind, dass man keine Strähne mehr sieht, solidarisieren sich ebenfalls mit den Protestierenden. Die Tochter eines Geistlichen und Witwe eines Märtyrers aus dem IranIrak-Krieg erklärte nach dem Tod von Mahsa Amini im September 2022: Auch die, die noch einen Funken Hoffnung hatten, dass diese Islamische Republik sich zum Besseren wandeln könnte, haben diesen verloren: «Ich spreche dem iranischen Volk mein Beileid aus dafür, dass es jetzt Mahsa verloren hat wie vor Jahren Zahra Kazemi und immer weiter Menschen verlieren wird unter solchen Umständen.» Die Absage an die Islamische Republik hat eine breite gesellschaftliche Basis, die immer größer geworden ist. Dieser Entwicklung möchte dieses Buch nachspüren.
Warum der Aufstand scheitern kann
Gegen einen Erfolg des Aufstands spricht aber auch einiges: So lässt sich der Einwand nicht von der Hand weisen, die Revolutionsgarden seien stark und auf diese Proteste vorbereitet. Ja, Iran hat ein hochgerüstetes und dadurch stabiles Repressionsregime. Die Islamische Republik von Ali Khamenei ist eine mächtige Gegnerin. Aber auch noch am Vorabend der Revolution von 1978/79 hielten alle, wohlgemerkt alle, das Regime des Schahs für das stabilste im Nahen Osten. Niemand hat vorausgesehen, dass der iranische Monarch gestürzt werden könnte. Das Schah-Regime sah ein, dass es keine Chance mehr hatte, als klar wurde, dass die Armee sich weigern würde, auf die Demonstranten zu schießen. Die Streitkräfte ließen sich nicht gegen das eigene Volk einsetzen.
Khomeini hat daraus gelernt und eine Parallel-Armee aufgebaut, die seine Revolution schützt. Die sogenannten Revolutionswächter, Pasdaran, wurden eigens dazu gegründet, das Regime zu verteidigen. Diese Handlanger haben viel zu verlieren und zu fürchten – vor allem die Rache einer Bevölkerung, die sie jahrzehntelang terrorisiert haben. Das ist das größte Hindernis für einen Regimewechsel. Denn die Pasdaran werden für die Islamische Republik noch lange kämpfen, auch mit dem Rücken zur Wand. Das Regime besteht aus Revolutionären und weiß daher, dass es keinesfalls nachgeben darf, wenn es an der Macht bleiben will. Deshalb erstickt es jeden Protest im Keim. Schon Alexis de Tocqueville wusste, dass der gefährlichste Moment für eine schlechte Regierung der ist, in dem sie sich zu Reformen bereit erklärt.
Oft wird gegen die Erfolgsaussichten des Aufstands eingewendet, die Bevölkerung auf dem Land sei konservativer eingestellt, dem Islam mehr zugetan und somit auch einem Regime, das im Namen Gottes regiert. Doch 74 Prozent aller Iraner leben in Städten, und die Unzufriedenheit ist überall gleich groß. 40 Prozent der Iraner leben offiziell unter der Armutsgrenze, viele sind ihr nahe, sagt selbst das Parlament, das regelmäßig eigene Studien veröffentlicht. Der sogenannte Elendsindex, die Summe aus Inflationsrate und Arbeitslosenquote, hat sich offiziellen Angaben zufolge von 2011 bis 2019 um 12,4 Prozent erhöht. Seit 2018 befindet sich die Wirtschaft in einer Rezession. Die staatliche Organisation für Planung und Budgetierung hat bekannt gegeben, dass 2020 die Einnahmen aus dem Erdölexport nur noch 8,9 Milliarden US-Dollar betrugen. Vor zehn Jahren lagen diese bei 110 Milliarden Dollar.
Laut der Nachrichtenagentur Tasnim, die den Revolutionsgarden nahesteht, sind in Iran 46 Organisationen für die Propagierung und Durchsetzung des Kopftuchzwangs zuständig. Es gebe dabei solche, denen mehr Geld zur Verfügung steht als manch einem Ministerium. Im September 2020 erklärte Mehdi Nassiri, Ex-Chefredakteur der konservativen Tageszeitung Keyhan, dass 70 Prozent der Iraner gegen die islamischen Kleidervorschriften seien. Er bezog sich hier auf eine Umfrage des Kulturministeriums. Selbst in den als besonders religiös geltenden Provinzen Süd-Khorasan und Qom – dort sind die beiden Pilgerstätten Irans – sei die Zahl der Gegner der Zwangsverschleierung ebenso hoch wie die der Befürworter.
Gegen eine positive Perspektive für einen neuen, anderen Iran wenden manche ein, dass dem multiethnischen Iran der Zerfall drohe: Es könnte nur der Kern übrig bleiben, die Provinz Fars, in der Persisch als Muttersprache gesprochen wird, während sich die umliegenden Provinzen Aserbaidschan, Kurdistan, Belutschistan, Turkmenistan und Khuzistan selbstständig machen oder sich den «Brudervölkern» jenseits der Grenze anschließen könnten. Ich habe diese Sorge in den vergangenen Jahrzehnten oft von Iranern gehört, gerade auch von solchen, die dem Regime keine Sympathien entgegenbringen. Sie fürchten eine Balkanisierung. Oft war dies ihr einziges Argument für die Islamische Republik. Sie garantiere wenigstens die staatliche Einheit. Genau dieses Argument wird auch vom Regime immer eingesetzt, wenn die ethnischen und sprachlichen Minderheiten mehr Autonomie fordern. In den Regierungsmedien wird der Aufstand daher als politische Intrige dargestellt, von separatistischen Gruppen angezettelt, um Iran zu spalten. Das Regime setzte immer schon auf die Angst vor diesem Szenario und stellte sich als einzigen Garanten der nationalstaatlichen Einheit dar.
Die Möglichkeit des Zerfalls besteht, doch andererseits hat sich in den Monaten des Protests sogar ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Das Nationalgefühl könnte gewachsen sein, wenn Kurden, Aseris, Araber und Belutschen so viel Solidarität miteinander zeigen. Der ursprünglich aus der kurdischen Arbeiterbewegung stammende Slogan Zhin, zhiyan, azadi – Frau, Leben, Freiheit – erklang auch in Belutschistan. Überall in Iran ist zu hören: Az Zahedan ta Kordestan, janam fada-ye Iran – «Von Zahedan (Hauptstadt der Provinz Sistan-Belutschistan) bis Kurdistan. Mein Herz gehört Iran.»
Pathetisch? Ja, vielleicht. Iraner sind aber nun mal sehr pathetisch. Auch ihre Dichtung ist voll von Pathos. Doch das gemeinsam erfahrene Leid, der geteilte Schmerz, die verbindende Wut bringen in Iran immer noch so viele Menschen auf die Straße, dass das Regime kippen könnte. Zu Tränen gerührt und zu noch mehr Wut geführt hat das Geständnis des gefolterten Rappers Tomadsch Salehi: «Ich habe das geschrieben, der Text ist ja da. Musik kann Gewalt hervorbringen», sagt er im Video: «Das war mein Fehler, ich entschuldige mich dafür bei Ihnen. Und bei der Gesellschaft. Weil ich Gewalt erzeugt habe. Jetzt kann ich mich nur entschuldigen. Könnte ich doch nur das Gegenteil erzeugen.» Das Regime produzierte sein erzwungenes Geständnis als Musik-Clip. Den geplanten Effekt hatte die Aktion nicht. Trauer, Wut, Ekel – das waren die Reaktionen. Alle Gruppierungen in Iran bemühen sich inzwischen um eine einheitliche Front. Es ist zu hoffen, dass dies anhält.
Iran hätte Glück, wenn sich eine Person fände, die Führung übernehmen könnte, ohne ein Führer wie Khomeini sein zu wollen. Am vertrauenswürdigsten scheint die Menschenrechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi zu sein. Sie ist ein politisch kluger und strategisch denkender Mensch, der sich seine Integrität bewahrt hat. Libyen und Irak haben gezeigt, wie schwierig es ist, Länder nach dem Sturz eines Regimes wieder in ruhige Fahrwasser zu lenken. Zu Ebadi könnte eine feministische Außenpolitikerin Kontakt aufnehmen und fragen, welche Unterstützung sinnvoll, welche eher kontraproduktiv ist. Auch die Iraner im Land und im Exil sollten sich klarmachen, dass jetzt dafür gesorgt werden muss, dass Iran nach dem Sturz des Regimes nicht ins Chaos stürzt wie Libyen und der Irak und dass kein neuer starker Mann wie Khomeini an die Macht kommt.
Es könnte tatsächlich klappen. Das sieht man auch an der Uneinigkeit, mit der das Regime auf die Proteste reagiert. Während manche noch mehr Härte fordern, signalisieren andere Dialogbereitschaft, wenn sie auf die Studenten zugehen. Das zeigte sich, als im November eine Veranstaltung zugelassen wurde, bei der ein Studentenvertreter prominent zu Wort kam. Amin Madschidifar wurde sogar live im Fernsehen übertragen, als er sagte: «Akzeptieren Sie, dass manche Menschen in diesem Land nicht in den Rahmen passen, den Sie vorgegeben haben. Akzeptieren Sie, dass dieses System eine fundamentale Reform braucht.» Das Regime wird sich nun fragen, ob es die Studenten besänftigt, wenn sie ihren Unmut äußern dürfen. Oder ob es sie beflügelt.
Widerstand gegen den Islamismus, Abwendung vom Islam
Der Anspruch Khameneis, Staatsoberhaupt von Gottes Gnaden zu sein, einen Gottesstaat anzuführen und im Namen Gottes zu regieren, ließ viele Menschen lange vor Protesten zurückschrecken. Wer gegen eine weltliche Diktatur aufbegehrt, läuft Gefahr, sein diesseitiges Leben zu verlieren, doch manch einer in Iran sah auch sein jenseitiges Heil in Gefahr. Doch inzwischen glaubt dem Regime niemand mehr seinen Islam. Die Menschen glauben nicht mehr, dass sie «Krieg gegen Gott» führen, wenn sie sich auflehnen. Für dieses «Vergehen» wurden im Dezember 2022 die Demonstranten Mohsen Shekari und Madschidreza Rahnavard hingerichtet. Das Regime scheint sich selbst mit Gott zu verwechseln. Doch die ganz junge Generation, der die beiden angehörten und die jetzt weiter demonstriert, hat es so satt, gegängelt, gemaßregelt, kontrolliert zu werden, dass sie zurückschlägt, wenn die selbsternannten Vollstrecker Gottes auf sie einprügeln. Das sah man im Dezember 2022 auf vielen Videos, die über Social Media verbreitet werden.
Den größten Blutzoll haben bislang die Menschen in der Provinz Sistan-Belutschistan im Südosten entrichtet. Hier handelt es sich um einen Aufstand frommer sunnitischer Männer gegen einen schiitischen Staat, der sie aus religiösen Gründen diskriminiert und ihre Moscheen für Horte eines sunnitischen Extremismus hält. Sunniten stellen 9 Prozent der Bevölkerung im schiitischen Gottesstaat, sind also die größte Minderheit. Diese konfessionelle Minderheit fühlte sich nie durch den Staat der schiitischen Kleriker repräsentiert, der sie immer hat spüren lassen, dass sie – islamischer Einheitsgedanke hin oder her – nicht dazugehören. Sie sind Bürger zweiter Klasse. Angesichts des militärischen Vorgehens vor allem in dieser Region wie auch in Kurdistan wirkt die Bewegung hier am ehesten wie ein veritabler Aufstand.
Der Aufstand gegen den Gottesstaat ist nicht grundsätzlich antiislamisch, auch wenn «Turbanschubsen» – den Mullahs den Turban vom Kopf hauen – zu einem beliebten Volkssport in Iran geworden ist und Frauen ihr Kopftuch verbrennen. Aber er ist antiislamisch, insofern er den Islam zurückweist, den sich die iranischen Machthaber zurechtgelegt haben und den sie den «reinen mohammedanischen Islam» nennen. Was wir hier sehen, ist eine postislamistische Bewegung. Schon lange ist die heutige iranische Gesellschaft postislamistisch, eben weil in Iran das erste islamistische Experiment in der Region praktiziert worden ist. Die zentrale Aussage aller Islamisten weltweit ist: «Der Islam ist die Lösung» – Al-Islam huwa al-hall. Das wird auch auf die Politik bezogen. Der Islamismus wird so zu einer Ideologie, die Staat und Islam in eins setzt. Iraner gehen heute auf die Straße, um dem eine Absage zu erteilen. Nach über vierzig Jahren real erlebtem Islamismus sagen sie heute: Der Islam ist nicht die Lösung, er ist Teil des Problems.
Vom Widerstand gegen den Islamismus zur Abwendung vom Islam ist es für viele Iranerinnen und Iraner offenbar nur ein kleiner Schritt. Das zeigt sich an der Hinwendung zu anderen Religionen, vor allem zum Zoroastrismus, aber auch zu Buddhismus und zu Christentum. Das in den Niederlanden ansässige Institut GAMAAN (The Group for Analyzing and Measuring Attitudes in IRAN) hat im Juni 2020 eine repräsentative Umfrage durchgeführt, an der 50 000 Menschen teilnahmen, von denen 90 Prozent in Iran lebten. Die Hälfte erklärte, sie hätten ihren Glauben verloren. Immerhin 8 Prozent antworteten auf die Frage nach ihrer Religionszugehörigkeit, dass sie sich als Zoroastrier verstehen. Das wären bei einer Einwohnerzahl von fast 85 Millionen in Iran um die 6,8 Millionen Zoroastrier. Eine interessante Zahl, wenn man bedenkt, dass nach offiziellen Angaben nur rund 15 000 Zoroastrier in Iran leben. Anderen Umfragen zufolge bezeichnen sich nur 30 bis 40 Prozent der Iraner noch als Muslime. Die Islamische Republik war somit nicht nur der größte Treiber der Säkularisierung, sondern auch der Absage an den Islam als persönliche religiöse Orientierung.
Was das Selbstverständnis als Zoroastrier bedeutet, bleibt dabei unklar. Vielleicht kommt es dabei gar nicht so sehr auf die Religion an, denn häufig geht das Bekenntnis zum Zoroastrismus, der Religion Irans vor der Islamisierung, mit der Aussage einher, Iraner zu sein und kein Araber. Der Islam, die Staatsreligion, wird als etwas Fremdes, nicht Eigenes angesehen, als etwas von außen Kommendes, Aufgezwungenes.
Behzad Karim Khani erzählt von seinem Vater, der ihm erklärt habe, dass die Iraner, der Botschaft Zarathustras folgend, die Feuer in ihren Tempeln nie ausgehen ließen. Dafür wurden die Fackeln auf verschiedene Familien verteilt. Zum Schutz. Denn egal, wie viel Zerstörung das Volk erlebe, am Ende würden die Feuer immer wieder neu entzündet. Das ist ein weitverbreiteter Glaube: Das eigentlich Iranische wird immer überleben. Der Zoroastrismus ist tief verwurzelt in der iranischen Kultur und spielt bis heute eine große Rolle, zum Beispiel durch das Neujahrsfest, das aus dem Zoroastrismus stammt und am Tag der Frühlingstagundnachtgleiche begangen wird. Damit unterscheiden sich die Iraner von anderen Muslimen, die in Mondjahren rechnen. Die heutige gängige iranische Zeitrechnung beginnt zwar wie die sonstige islamische mit dem Jahr 622, dem Jahr der Auswanderung des Propheten Mohammed nach Medina, aber man rechnet in Sonnenjahren, weshalb wir uns seit dem 21. März 2023 nach iranischer Zeitrechnung im Jahr 1402 befinden, während für andere Muslime am 19. Juli 2023 wegen der kürzeren Mondjahre bereits das Jahr 1444 nach der Hidschra beginnt.
Dass Orte wie Yazd, wo ein Feuertempel die Islamisierung Irans seit dem 7. Jahrhundert überstanden hat, zu Pilgerstätten der Erinnerung an vor-islamische Zeiten wurden, sah das islamische Regime ebenso ungern wie die Tatsache, dass die Iraner nicht von ihrem Neujahrsfest ließen, das bei ihnen einen viel größeren Stellenwert hat als das islamische Opferfest oder das Zuckerfest. Es wurde jedoch vom Regime nur direkt nach der Revolution und nur ganz kurz der Versuch unternommen, das Fest, das zoroastrischen Ursprungs ist, zu unterbinden. Man sah ein, dass dies zu viel Widerstand in der Bevölkerung hervorrufen würde. Ebenso gab man schnell die Idee auf, das vorislamische archäologische Erbe Irans zu zerstören. Zwar wurde Persepolis in den Revolutionswirren gestürmt, und einige Reliefs wurden vernichtet, aber die Bewohner von Shiraz verhinderten den Plan, den Königssitz zu sprengen. Auch das Grabmal des shahinshah, des Königs der Könige, wie Kyros II. genannt wird, in der Nähe von Schiras sollte geschleift werden, aber hier stellten sich ebenfalls die Menschen zum Schutz auf.
Dass dieser Widerstand schon damals so groß war, erstaunt. Das Vorgängerregime unter Mohammad Reza Pahlavi hatte sich durch seine Anlehnung an die vorislamische Vergangenheit Irans und die Herabsetzung der jüngeren, islamischen hervorgetan und sich dadurch viele Feinde gemacht. Daher kam auch die Geringschätzung der vorislamischen Vergangenheit nach der Revolution nicht von ungefähr. Nur ausländische Touristen besuchten Persepolis, den Ort antiker Pracht. Erst in der Ära Khatamis, der 1997 sein Amt antrat, kam es wieder zu einheimischem Tourismus. Die Bevölkerung, das merkte das Regime bald, war auf die vorislamischen Paläste nicht weniger stolz als auf die Moscheen Isfahans. Bald meldeten sich versöhnliche Stimmen zu Wort. In einem Essay mit dem Titel Se farhang, «Drei Kulturen», schrieb Abdolkarim Soroush, es sei dumm, die vorislamische Identität und Kultur Irans zu verdammen. Die heutige iranische Identität setze sich zusammen aus drei Kulturen, die in der Geschichte fruchtbringend zusammengewirkt hätten: die vorislamische, die islamische und die westliche. Die Hinwendung der religiös-politischen Elite zur vorislamischen Vergangenheit, die man seit rund fünfzehn Jahren beobachten kann, steht im Zusammenhang mit der Bewusstwerdung der eigenen kulturellen Identität von Irans ethnischen Minderheiten. Kurden, Turkmenen, Belutschen, Araber und Aserbaidschaner grenzen sich so vom zentralistischen, islamistischen Staat ab. Dieser setzt im Gegenzug auf die gemeinsame vorislamische Vergangenheit aller Iraner, um dem befürchteten Separatismus entgegenzuwirken. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Identitätsbildung über den gemeinsamen Islam nicht funktioniert hat.
Der religiöse Führer Ali Khamenei hat deshalb 2007 zum Jahr der «Nationalen Einheit und der islamischen Harmonie» erklärt. Die staatlichen Medien initiierten daraufhin Programme, die den ethnischen und religiösen Minderheiten eine Stimme gaben. Sie durften erstmals in Funk und Fernsehen über ihre Traditionen und Sprachen reden. Es wurde über archäologische Forschungen berichtet und so versucht, die Vision einer Nation mit gemeinsamen historischen Wurzeln zu schaffen.
Bei einem Besuch in Persepolis 2008 pries Khamenei den Ort als Quelle des Stolzes aller Iraner. Als 2010 der Kyros-Zylinder als Leihgabe des British Museum nach Iran zurückkam, sprach Präsident Ahmadinedschad in einer emotionalen Rede von Kyros als einem Symbol der Gerechtigkeit und der Menschenrechte für die Welt. Er erhob diesen gar in den Rang eines Propheten – was doch ziemlich ketzerisch ist. Aber der iranische Nationalismus war endgültig wieder auf die politische Bühne zurückgekehrt. Ahmadinedschad war der erste Mann aus dem Regime, der von der «großartigen Nation des Iran» sprach. Damit setzte er sich deutlich von dem allislamischen Anspruch des Gründervaters ab, für den nur die islamische Gemeinschaft zählte. «Khomeini hatte das Wort Nationalismus aus dem politischen Vokabular verbannt», schreibt Bahman Nirumand: «Der Islam ist eine Weltreligion, und die islamische Gemeinde erkennt nationale Grenzen nicht an. Das Wort Nationalismus hat in unserer Sprache nichts zu suchen.»
Präsident Raisi versuchte, dem Kyros-Hype zu begegnen, indem auch er 2021 kurz vor dem «Kyros-der-Große-Tag» die Stätten der Achämeniden besuchte und in Persepolis erklärte, der Ort sende neben seiner Botschaft von der architektonischen Pracht auch eine weitere: Das Schicksal der Unterdrücker ist ihr Untergang. Wie ironisch das aus seinem Munde klingt, muss ihm entgangen sein. Was in den Jahren zuvor am Grab des Achämenidenkönigs zu hören war, hat jedenfalls die Alarmglocken der Herrschenden schrillen lassen. Sie untersagten am 29. Oktober 2021 den Besuch des Mausoleums. «Wir sind Arier und beten keine Araber an», war dort skandiert worden. Und weiter: «Alles ist Gottes Wille, aber alles Unheil kommt von den Arabern.» Nicht wenige Iraner denken so.
Diese Denkweise erklärt die breite Hinwendung zum Zoroastrismus, die sich weniger in formalen Übertritten manifestiert als in einer zur Schau gestellten Haltung und in Symbolen, die man trägt. Ein Beispiel ist der überall präsente Faravahar oder Forouhar, der das Symbol der drei Grundprinzipien des Zoroastrismus ist: Gutes Denken, Gutes Reden, Gutes Handeln. Man sieht das Symbol heute überall und in jeder Form: als Schlüsselanhänger, Kleiderhaken, Anhänger im Auto, aufgedruckt auf T-Shirts und Taschen. Bei manch einem zeigt das Tragen des Forouhar an, dass er sich zum Zoroastrismus bekennt, andere wagen damit symbolisch ein wenig Opposition.
Heute orientieren sich sogar die Protestformen an der vorislamischen Zeit. Ferdowsis Buch der Könige erzählt die Geschichte von Siavosh, der unschuldig ermordet wird. Aus Wut und Trauer schert sich seine Frau Farangiz daraufhin das Haar. Das Abschneiden der Haare haben wir in den letzten Monaten oft beobachtet beim Trauerritus und als Statement gegen die Islamische Republik. Diese Art von Orientierung am vorislamischen Erbe ist ein Bekenntnis zur Abkehr von der Islamischen Republik und sogar zur Abkehr vom Islam. Wie es dazu kam, möchte dieses Buch beschreiben. Der Titel ist angelehnt an eine berühmte Forderung von Ali Shariati, dem Ideologen der Revolution: «Islam ohne Mullahs» – Eslam menha-ye ruhaniyat – lautet der von ihm geprägte Slogan. Heute sprechen in Iran, davon abgeleitet, viele von einem «Iran ohne Islam».
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