Die offen zur Schau gestellten freudigen Reaktionen der Iraner auf den Tod ihres Präsidenten machen deutlich, wie tief die Kluft zwischen dem Regime und der Bevölkerung ist. Von Farzad Amini
Die freudigen Reaktionen der Iranerinnen und Iraner auf die Nachricht vom tödlichen Absturz des Hubschraubers von Ebrahim Raisi, dem Präsidenten der Islamischen Republik, haben in den sozialen Medien ein breites Echo gefunden. In den vergangenen Jahren, insbesondere seit 2009, haben Menschen im Iran auf ähnliche Weise reagiert, wann immer die Islamische Republik Rückschläge oder Krisen erlebte. Diese Reaktionen umfassen das Verspotten des Regimes, das Teilen von humorvollen Inhalten über seine Probleme, das Ausdrücken von Freude durch individuelles als auch kollektives Tanzen und Singen und das Posten dieser Feiern in den sozialen Medien.
Psychologische Entlastung
Die satirischen und freudigen Reaktionen der Bevölkerung auf die Krisen des Landes können unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Erstens weist die zunehmende Häufigkeit solcher Feiern auf eine erhebliche Kluft zwischen der Bevölkerung und dem herrschenden Regime hin.
Sie verdeutlicht, wie sehr sich die Menschen von der Regierung und den Machthabern abgekoppelt fühlen: Weder sehen sie die Sorgen des Regimes als ihre eigenen an, noch nehmen sie an dessen Freuden teil. Diese wachsende Kluft zeigt, dass sich die Öffentlichkeit weder mit den Erfolgen noch mit den Misserfolgen des Regimes identifiziert und sich nicht als Teilhaber an dessen Schicksal betrachtet.
Im Wesentlichen unterstreichen diese Reaktionen die fehlende Solidarität zwischen der Bevölkerung und der Regierung und offenbaren ein tief verwurzeltes Gefühl der Entfremdung und Missbilligung. Die Bereitschaft der Öffentlichkeit, die Misserfolge des Regimes offen zu feiern, unterstreicht ihre Ablehnung und Verachtung und signalisiert eine tiefe Kluft zwischen den Herrschenden und den Beherrschten.
Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, dienen diese Reaktionen als eine Art psychologische Befreiung für die Menschen. Da sie unter einem diktatorischen Regime leben, sind sie nicht in der Lage, ihre legitimen Wünsche, ihren Glauben und ihre Überzeugungen offen zu äußern. Wann immer sie vielmehr versucht haben, diese Forderungen zu äußern, sahen sie sich mit schwerwiegenden Repressalien seitens der Herrschenden konfrontiert, darunter Festnahmen, Inhaftierungen und Entzug von Rechten und Privilegien. Indem sie die Probleme des Regimes feiern und verspotten – Probleme, die oft durch dessen eigene Inkompetenz entstehen –, finden die Menschen einen Weg, ihren unterdrückten Emotionen und Frustrationen Luft zu machen. Diese Form des Ausdrucks bietet ihnen ein Ventil für ihre aufgestauten Gefühle und ermöglicht es ihnen, indirekt ihre berechtigten Forderungen anzusprechen.
Viele Menschen, die an diesen Feiern teilnehmen, betonen, wie sehr das Regime ihren Bestrebungen entgegensteht, und durch diese Akte der Freude geben sie ein Gefühl der Vergeltung gegenüber dem Regime Ausdruck. Befindet sich das Regime in einer Krise, ergreift das Volk die Gelegenheit, seine Präsenz und Stimme zu behaupten.
Form des Widerstands
Darüber hinaus können diese Ausdrucksformen der Freude und die Produktion von Satire und Witzen angesichts der Misserfolge und Krisen als eine neue Form des Widerstands und der Solidarität des Volks gegen das Regime angesehen werden.
Indem sie ihre Freude über die sozialen Medien teilen, beteiligen sich viele Menschen an einer neuen Form des Protests gegen ein diktatorisches System, das alle Fernseh- und Satellitenkanäle kontrolliert, um seine Macht zu erhalten. Trotz der zahlreichen Beschränkungen und Filter, die dem Onlinezugang auferlegt wurden, setzt die Bevölkerung ihren Kampf gegen das Mullah-Regime fort, indem sie die sozialen Medien und andere Online-Plattformen nutzt. Dieser digitale Widerstand ist ein moderner Ansatz, um die Regierung herauszufordern und ein Gefühl der Einheit innerhalb der Bevölkerung zu fördern.
Im jüngsten Fall des Hubschrauberabsturzes, bei dem Präsident Raisi und seine Begleiter ums Leben kamen, sind die hier erörterten Faktoren deutlich zu erkennen. Viele Menschen brachten ihre Freude zum Ausdruck und nutzten diesen Moment sowohl zur psychologischen Entlastung als auch zur Förderung der gesellschaftlichen Solidarität gegenüber der Islamischen Republik. Die öffentliche Zurschaustellung von Freude diente der kollektiven Katharsis, die es dem Einzelnen ermöglichte, seinen aufgestauten Emotionen und Frustrationen, die sich unter den repressiven Bedingungen des Regimes angesammelt hatten, Luft zu machen. Indem sie das Unglück einer zentralen Figur des Regimes öffentlich feierten, fanden die Menschen einen Weg, den psychologischen Druck, unter einer Diktatur zu leben, die ihre Freiheiten beschneidet und ihre legitimen Bestrebungen unterdrückt, für einen Moment zu lindern.
Darüber hinaus schufen die freudigen Reaktionen in der Bevölkerung ein Gefühl der Einheit und ein gemeinsames Ziel. Die weit verbreiteten Feiern wirkten wie eine Form der sozialen Bindung und stärkten den kollektiven Widerstand gegen das Regime. Indem sie auf diese Weise zusammenkamen, brachten die Menschen nicht nur ihre Verachtung für die herrschende Regierung zum Ausdruck, sondern demonstrierten auch ihre Solidarität untereinander und stärkten so ihren gemeinschaftlichen Widerstand.
Die Reaktionen auf Raisis Tod machen deutlich, wie solche Ereignisse als Katalysator für persönliche emotionale Befreiung und kollektive Ermächtigung dienen können und verdeutlichen die tiefe Kluft zwischen dem Regime und dem Volk.
Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von mena-watch
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