Die Verfassung der Islamischen Republik Iran und die Verankerung der Theokratie
Irans politisches System ist einmalig: Es verschränkt republikanische und theokratische Institutionen. Trotz ideologischer Widersprüche sowie innen- und außenpolitischer Krisen ist die Islamische Republik bemerkenswert stabil. Der Iran-Experte Wilfried Buchta erklärt, warum.
Bis heute weist Irans Regime eine bemerkenswerte innen- und außenpolitische Stabilität auf. Das war ihm nicht in die Wiege gelegt. Im Gegenteil: Die Islamische Republik erlebte in ihren Anfangsjahren ab 1979 nicht nur blutige Wirren und Richtungskämpfe, sondern war auch durch den achtjährigen Iran-Irak-Krieg härtesten Belastungen ausgesetzt. Dass Irans Regime dennoch stabil blieb, verdankt es nicht zuletzt der 1979 von Khomeinis Revolutionsführung durchgesetzten neuen Verfassung. Sie verankerte ein weltweit einzigartiges Hybridsystem aus ineinander verschränkten republikanischen und theokratischen Staatsinstitutionen.
Die republikanischen Institutionen sind das Amt des Präsidenten, der die Regierung führt, und das gesetzgebende Parlament. Beide werden alle vier Jahre vom Volk gewählt, wobei zu den Wahlen nur systemloyale Kandidaten zugelassen werden. Deren Systemloyalität wiederum misst sich vor allem an einem Kriterium: der Akzeptanz der "Rechtsgelehrtenherrschaft" (velayat-e faqih), dem Kernkonzept der Verfassung. Aufbauend auf diesem Konzept, schuf Ajatollah Ruhollah Khomeini 1979 ein auf ihn zugeschnittenes Amt, das über allen gewählten Organen steht und somit die republikanische Verfassungselemente des Präsidenten und des Parlaments neutralisiert: das Amt des "Herrschenden Rechtsgelehrten" (vali-ye faqih), dessen Inhaber auch "Revolutionsführer" (rahbar) genannt wird.
Die Schiiten glauben an einen verborgenen Zwölften Imam, den als Erlöser am Jüngsten Gericht von Gott gesandten Mahdi. Der Revolutionsführer übt quasi stellvertretend für den Zwölften Imam bis zu dessen Rückkehr die Macht aus. Dabei hat der rahbar auch die Kompetenz, die allgemeinen Richtlinien der Politik vorzugeben. Und damit nicht genug: Er kontrolliert ebenso die Justiz, die Revolutionswächterarmee und die reguläre Armee, die Polizei und Geheimdienste, Justiz und staatliche Medien sowie informelle Organisationen und religiöse Stiftungen, die einen beträchtlichen Teil der nationalen Wirtschaft verwalten.
Der Revolutionsführer fungiert als oberster Streitschlichter und Vermittler in den permanenten Konflikten der in mehrere Lager zerfallenden Machtelite. In der Khomeini-Dekade von 1979 bis 1989 bildeten sich drei Lager: die Konservativen, die innen- und außenpolitisch pragmatischen Moderaten und schließlich die Linksislamisten, aus denen ab 1995, als sie sich politisch gemäßigt hatten, die heutigen, nach innenpolitischer Liberalisierung strebenden Reformer hervorgingen.
Von Khomeinis charismatischer Diktatur zu Khameneis bürokratischer Autokratie
Als Khomeini am 3. Juni 1989 starb, gelang es der Systemelite binnen kurzem reibungslos und glatt einen Nachfolger zu bestimmen. Schon am 5. Juni wählten die im sogenannten Expertenrat vertretenen wichtigsten Regimekleriker den bisherigen Präsidenten, Ajatollah Ali Khamenei, zum neuen Revolutionsführer. Khamenei erbte die Führung eines politischen Systems, hinter dessen äußerer, durch Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ausstaffierter semi-republikanischer Fassade sich eine geschickt verschleierte religiöse Diktatur verbirgt.
Gleichzeitig endete mit dem Tod Khomeinis die Ära der charismatischen Autokratie. Khomeini hatte wegen seiner theologischen Qualifikation als schiitischer Großajatollah, seines Widerstands gegen die Monarchie und seines Charismas unangefochtene politische Autorität genossen. Anders dagegen Khamenei, dem diese Qualifikationen fehlten. Khamenei, bei seinem Amtsantritt ein eher blasser Kompromisskandidat der verschiedenen Flügel der Regimeelite, musste mehrere Jahre kämpfen, um seine Mankos auszugleichen. Doch schrittweise gelang es ihm, verschiedene Systemelitegruppen, insbesondere die Militärführer der mächtigen Revolutionswächtergarden (pasdaran), an sich zu binden. Dank ihrer Hilfe und dank des von ihm massiv ausgebauten "Revolutionsführerbüros" (bayt-e rahbari), das mit seinen schätzungsweise 300 Mitarbeitern seither als wichtigste Schaltzentrale des Regimes gilt, konnte Khamenei seinen Einfluss absichern.
Im "Revolutionsführerbüro" laufen alle Fäden der Macht zusammen, werden Informationen gesammelt, die innen- und außenpolitischen Strategien entworfen und deren Durchsetzung geplant. Von dort aus übt der Revolutionsführer in der Manier eines Mikromanagers seine Macht aus. Zu seinen Werkzeugen zählen unter anderem über 50 informelle, das heißt per Gesetz nicht kodifizierte Organisationen, kommerzielle Finanz-Trusts und religiös-karitative Stiftungen, die in ihrer Gesamtheit ein engmaschiges Kontrollnetz bilden, das sich über weite Teile von Staat und Gesellschaft gelegt hat. Alle diese informellen Organisationen und religiöse Stiftungen, deren Leiter von Khamenei ernannt und entlassen werden, haben einen großen, in der Regel jährlich wachsenden Budgettitel in dem von Parlament und Präsident festgelegten Staatshaushalt. Über den Budgettitel entscheidet letztlich Khamenei; das Parlament wird lediglich formal gefragt. Die informellen Organisationen und religiösen Stiftungen unterliegen auch nicht der Aufsicht seitens der vom Volk gewählten Exekutive und Legislative, da sie nur gegenüber dem Revolutionsführer Rechenschaft über ihre Bilanzen und Finanzaktionen schuldig sind.
Im Gesamtrahmen dieser von allen Steuerzahlungen befreiten Organisationen sollen allein die vier größten unter ihnen insgesamt 60 Prozent des Vermögens des iranischen Staates verwalten und besitzen. Das behauptete im September 2019 auf dem iranischen Nachrichtenportal Alef ein dem Reformerflügel angehöriger Regime-Insider namens Behzad Nabavi, der acht Jahre lang Industrieminister und vier Jahre lang Vizeparlamentspräsident war. Angesichts der gewaltigen Ressourcen in den Händen dieser nur von Khamenei beaufsichtigten Wirtschaftsgiganten hätten, so Nabavi, alle seit 1989 gewählten bisherigen Regierungen Irans nur eingeschränkte Entscheidungsgewalt, da sie allenfalls über zehn bis 15 Prozent der Macht verfügten.
Khamenei und die ohnmächtigen Präsidenten Irans
Hält man sich die durchaus glaubwürdigen Aussagen Nabavis vor Augen, wird eines klar: Alle vier, seit 1989 ins Amt gewählten Präsidenten Irans waren innerhalb des von Khomeini vorgegebenen und von seinem Nachfolger dominierten Systems weitgehend machtlose Akteure zweiten Rangs. Verändern konnten sie kaum etwas.
Der erste Präsident, den Khamenei ausmanövrierte, war der Pragmatiker Ali-Akbar Haschemi Rafsandschani. Bis 1993 konnte er die Innen- und Außenpolitik des Iran weitgehend allein bestimmen. Dann jedoch schaltete sich Khamenei ein und begann als ideologischer Gralshüter von Khomeinis anti-westlichem Revolutionserbe Rafsandschanis Maßnahmen zu durchkreuzen; sei es die zaghafte politische Öffnung gegenüber dem Westen, sei es die Lockerung der Zensur im Bereich der Presse und Meinungsfreiheit. Im Ergebnis blieb Rafsandschani gegenüber Khamenei weitgehend ohnmächtig. Eine bittere Erfahrung, die auch sein Nachfolger Mohammed Khatami machte – ein prominenter Reformer, der 1997 mit einem überwältigenden Mandat des Volkes ins Präsidentenamt gewählt wurde.
Anfänglich errang Khatami beeindruckende Erfolge, etwa als es ihm gelang, durch Vergabe von mehr Zeitungslizenzen und durch Aufhebung der strikten Zensur die Meinungs- und Pressefreiheit zu stärken. Dennoch scheiterte auch er mit vielen seiner Vorhaben. Weder konnte er außenpolitisch die Feindschaft zu den USA abbauen noch innenpolitisch seine Reformen und Liberalisierungsmaßnahmen dauerhaft politisch verankern. Zu groß war der Widerstand Khameneis und der ihn stützenden konservativen Fraktionen des Machtestablishments, ganz zu schweigen von den von Khamenei kontrollierten Staatsorganen, namentlich die Justiz und die Sicherheitsapparate.
2005 endete die Amtszeit Khatamis. Die Präsidentschaftswahlen 2005 gewann Mahmoud Ahmadinedschad, ein von Khamenei favorisierter ultraradikaler Konservativer, der seinen Sieg vor allem den Stimmen des verarmten Fußvolks der Revolution, der mostaz'afin, und der Unterstützung der mächtigen pasdaran, der Revolutionswächtergarden, verdankte. Mit Billigung Khameneis nahm Ahmadinedschad die verbliebenen Reformmaßnahmen Khatamis zurück. Meinungs- und Pressefreiheit wurden wieder drastisch eingeschränkt, zahllose Journalisten, politisch Aktive sowie Menschenrechtler landeten im Gefängnis, Folterungen und extralegale Hinrichtungen regimekritischer Personen nahmen massiv zu. Und auch außenpolitisch fuhr der neue Präsident einen Konfrontationskurs gegenüber dem Westen. Damit nicht genug: Ahmadinedschad forcierte mit Billigung Khameneis das Atomprogramm des Landes, was dazu führte, dass der Westen, der Teheran Ambitionen auf den Bau einer Atombombe unterstellte, immer härtere Wirtschaftssanktionen gegen den Iran verhängte.
Die Wiederwahl Ahmadinedschads 2009 war begleitet von massiven öffentlichen Protesten, die sich an den offensichtlichen Wahlmanipulationen entzündeten und schließlich gewaltsam niedergeschlagen wurden. Eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen rückte unter Ahmadinedschad in weite Ferne. Als Ahmadinedschad 2013 aus dem Amt schied, war das Land außenpolitisch fast vollständig isoliert. Schlimmer noch: Aufgrund der US-Sanktionen und der von Ahmadinedschad an Irans Bedürftige, seine eigene Wählerbasis, verteilten Sozialgeschenke war der Iran wirtschaftlich fast bankrott.
Um einen drohenden Krieg mit den USA und einen Wirtschaftskollaps abzuwenden, war Khamenei zu mehr Flexibilität und Pragmatismus gezwungen. Und so billigte er 2013 die Präsidentschaftskandidatur Hassan Rouhanis, eines moderaten Konservativen, der für Atom-Verhandlungen mit dem Westen zwecks Aufhebung der Wirtschaftssanktionen eintrat. Nachdem Rouhani ins Amt gewählt worden war, gelang es ihm im Juli 2015 dank Khameneis Rückendeckung das Internationale Atomabkommen mit den fünf UN-Vetomächten und Deutschland abzuschließen.
Nachdem sich die USA unter Präsident Donald Trump 2018 einseitig aus dem Atomabkommen zurückgezogen hat, bleibt ungewiss, wie lange der Iran sich seinerseits noch an das Abkommen halten wird. Die letzte Entscheidung darüber liegt, wie bei allen wirklich wichtigen, die Zukunft Irans bestimmenden Fragen auch, in der Hand Khameneis.
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